Debattenblog

Debattenblog Feed abonnieren
My Feed Description
Aktualisiert: vor 46 Minuten 25 Sekunden

Die IL ist zu weiß, oder nicht?

Fr, 07/22/2022 - 14:34

Der Text basiert auf den Auseinandersetzungen am letzten BPoCKanax-Wochenende der IL. Die Auseinandersetzungen, die uns beschäftigen führen wir konkret in und mit der IL. Sie sind aber Ausdruck von Herausforderungen, die insgesamt in der Linken bestehen.

Wir in der IL?

Die Entscheidung zur IL eint uns. Sie zeigt, dass wir unsere politischen Kämpfe nicht von „unseren Identitäten“ ausgehend führen wollten. Die politischen Ausgangspunkte sind stattdessen eher: undogmatisch, linksradikal, überregional. Oder Bestrebungen wie: nicht nur in und für die Szene, im gesellschaftlichen Handgemenge (das auch aus weißen Deutschen besteht), internationalistisch. Uns allen geht’s ums Ganze und nicht darum unsere Kämpfe v.a. unter dem Vorzeichen „antirassistisch“ zu führen.

Warum nicht zur IL? Wir haben keine Angst. Weder vor euch und den möglichen rassistischen Erfahrungen, den Enttäuschungen und Verletzungen, noch davor Verrat an „unseresgleichen“ zu begehen. Wir halten diese Ängste für „falsche“ Ängste. Wir wissen um die Gemeinsamkeiten zwischen „uns“ und „euch“ und halten es für notwendig, sie im Fokus zu behalten. Wir verstehen uns als vertrauensvoll (persönlich + dass es ein ernsthaftes Interesse gibt auch rassistische Verhältnisse überwinden zu wollen) miteinander und angewiesen aufeinander – auf vielen Ebenen. Auf dieser Grundlage lässt sich unseres Erachtens mit Rassismen umgehen. Wir wissen auch um die Unterschiede zwischen „uns“ und „euch“ und die blinden Flecken – wir glauben gerade deshalb, dass es falsch wäre euch unter „euresgleichen“ zu belassen. Identität ist also nicht der Ausgangspunkt bei der Frage, mit wem wir uns organisieren wollen. Das heißt: Wir bleiben!

„Identisch“ ist mensch am Ende nur mit sich selbst. Alleinsein steht aber im Widerspruch zu Solidarität. In Zeiten der neoliberalen Vereinzelung scheint uns Solidarität als etwas gemeinsames, kollektives wichtiger denn je. Wir wissen, dass es möglich ist in unseren Unterschieden, in unserem unterschiedlich Getroffensein, gemeinsam politisch zu kämpfen. Alles andere würde die Idee von Solidarität verwerfen. Wir sind sicher, wir können in allen Unterschieden ausgehend vom Gemeinsamen agieren, wenn ihr gewillt seid, die Gemeinsamkeit in antirassistischen Kämpfen zu suchen und zu finden. Das, was sich so mutig und kämpferisch liest, hat für uns mit sozialem Kapital zu tun – mit schmerzlichem sozialen Kapital: Wir wissen uns in den Lebens-, Beziehungs- und aus Klassenzusammenhängen, aus denen wir ursprünglich kommen, zu bewegen. Aber wir wissen uns auch an Orten wie der Universität und in der IL zu bewegen. Dieses „sich darin bewegen können“ ermöglicht uns sehr viel, aber es ist auf verschiedenen Ebenen auch schmerzlich. Denn all das sich bewegen „können“ kommt nicht zuletzt auch von einem es „müssen“. So finden wir uns auch in der IL manchmal Deutscher als sonst. Nicht zuletzt deshalb führen viele von uns Kämpfe, insb. antirassistische Kämpfe auch oder stärker außerhalb der IL. Dieses soziale Kapital entsteht nicht nur in alltäglichen Zwängen (Performancedruck in der Schule o.Ä.), sondern führt auch dazu überhaupt in Zwänge zu kommen - also auch das “können” führt wieder zum “müssen”: Bestimmte Anteile unserer Selbst performen zu können, zwingt uns auch dazu andere kontinuierlich nach hinten zu stellen oder zu unterdrücken. So ist die (post-)migrantische Beziehungsstruktur ständig geprägt von Unzugehörigkeit,...

Den Endgegner enteignen

Mi, 06/29/2022 - 12:13

Der Einfluss großer Wohnungskonzerne am deutschen Wohnungsmarkt nimmt weiter zu. Für Mieter*innen und unsere Städte insgesamt heißt das nichts Gutes. Umso wichtiger, dass auch die Mietenbewegung ihre Kräfte bündelt und die bundesweite Organisierung gegen Vonovia & Co. vorantreibt, argumentieren Anna und Felix aus der überregionalen Recht auf Stadt-AG der IL in ihrem Artikel. Im Rückblick auf die Enteignungskonferenz von »Deutsche Wohne & Co. enteignen« in Berlin zeichnen sie strategische Diskussionen nach und informieren über nächste Schritte.

Wie kann die angestrebte Enteignung und Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne trotz der Blockadehaltung der Berliner Politik durchgesetzt werden? Was lässt sich von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« (DWE) lernen? Und wie geht es mit der Mietenbewegung insgesamt weiter? Das sind einige der zentralen Fragen, die wohnungspolitisch Aktive aktuell umtreiben – und zwar längst nicht nur in Berlin. Unter dem Slogan »Wir müssen reden« sind deshalb vom 27. bis 29. Mai auf Einladung von DWE über 700 Aktivist*innen und Interessierte aus Berlin und dem ganzen Bundesgebiet – sowie teilweise dem europäischen Ausland – zur großen Enteignungskonferenz an der TU Berlin zusammengekommen. Bei Workshops, Podien, Pausengesprächen und einer rauschenden Party haben wir gemeinsam diskutiert, voneinander gelernt und Netzwerke vertieft.

Erste Eindrücke von der Enteignungskonferenz

Keine Frage: Die Enteignungskonferenz hat Spaß gemacht und war eine großartige Erfahrung. Ob sie auch ein politischer Erfolg war und was aus ihr folgt, wird jetzt im Nachgang diskutiert. Wir wollen zu dieser Debatte beitragen, beschränken uns dabei jedoch auf jenen Teil der Konferenz, den wir als Mitglieder der überregionalen Recht auf Stadt-AG der Interventionistischen Linken (IL) organisiert haben: die dreiteilige Workshopreihe »Bundesweit gegen Vonovia & Co.«, die ebenso wie Workshops zu lokalen Bürger*innenbegehren und zum aktuellen Stand bei der Kampagne Mietenstopp der bundesweiten Vernetzung von Aktiven diente. Ziel unserer Workshops war es, gemeinsam über bundesweite Strategien und Ansätze gegen große Wohnungskonzerne zu beraten sowie konkrete Schritte zum Bewegungsaufbau und zur Ausweitung der Enteignungs- und Vergesellschaftungsdynamik über Berlin hinaus zu planen.

Als erstes Fazit können wir festhalten: Die kontinuierliche, aktive Teilnahme von mindestens 30, in Hochphasen über 60 Aktiven an den Workshops zeigt, dass es ein großes Interesse an bundesweiter Vernetzung zu Vonovia & Co. gibt. Dies spiegelt auch die vielfältige Zusammensetzung der Teilnehmenden wider: In den Debatten vertreten waren nicht nur Aktive von DWE, der Initiative »Hamburg enteignet«, dem VoNOVia-Bündnis oder dem #NoVonovia-Bündnis gegen die Vonovia-Aktionärsversammlung in Bochum sowie von vielen lokalen Mietinitiativen aus dem ganzen Bundesgebiet (von Bremen bis Stuttgart, von Aachen bis Leipzig), sondern auch Vertreter*innen des Deutschen Mieterbundes und der Kritischen Mietaktionär*innen. Umso auffälliger war demgegenüber, dass – ebenso wie bei der Enteignungskonferenz insgesamt – nur wenige Aktive aus der Partei DIE LINKE, der radikalen Linken und der Recht auf Stadt-Szene anwesend waren. Letztere orientierte offenkundig stärker auf das jährliche Recht auf Stadt-Forum, das nur zwei Wochen später in Jena stattfand. Hier eine stärkere Brücke zu bauen, wird für die Zukunft eine wichtige Aufgabe sein.

Einig waren sich die Teilnehmenden der Workshops in der Einschätzung, dass DWE kein einzelner Leuchtturm bleiben dürfe, sondern von Berlin aus ein...

Keine Militanz ist auch keine Lösung

Mi, 06/22/2022 - 23:56

Wie weiter in der Klimagerechtigkeitsbewegung, wenn die bisherigen Aktionsformen an offensichtliche Grenzen stoßen? Während in der Presse vor einer »grünen RAF« schwadroniert wird, diskutiert die Bewegung selbst sehr viel konkreter und zielorientierter – zum Beispiel im Folgenden Beitrag einiger anonymer Militanter.

Liebe Genoss*innen, Freund*innen und Gefährt*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung (KGB) und darüber hinaus, wir* sind ein loser Zusammenhang von Aktivist*innen, der sich seit Mitte letzten Jahres mit der Frage auseinandersetzt, ob und wie es an der Zeit ist für mehr Militanz in der radikalen Linken und speziell in der KGB. Diese Debatte um Militanz, friedliche Sabotage oder ZU+ ist seitdem schon voll im Gange – nice! Wir wollen an der Stelle gerne unsere* Gedanken dazu mit euch teilen und die ein oder andere unschlüssige Person davon überzeugen, dass wir als KGB weiter gehen sollten. Um mit unseren Aktionen den sich zuspitzenden Verhältnissen durch die (Klima-)Krise gerecht zu werden, sehen wir* es als einen von mehreren relevanten Punkten, die Aktionsformen zu verändern. Wir brauchen mehr Militanz, um in einen gesellschaftlichen Klima-Diskurs mit einer radikalen Perspektive intervenieren zu können, um zum Investitionsrisiko der Konzerne zu werden, um ein revolutionäres Bewusstsein zu stärken, um den Slogan »Den Wandel selbst in die Hand nehmen« zur tatsächlichen Praxis zu machen und letztendlich, um die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu überwinden. Hierbei konzentrieren wir* uns, aufgrund unserer eigenen politischen Arbeit, vor allem auf den Teil der KGB, der in zivilem Ungehorsam (ZU) ihre dominante Handlungsform gefunden hat.

ZU in Form von Bagger- und Schienenbesetzungen hatte u*Mn vor einigen Jahren durchaus einen antagonistischen Charakter, den wir* als einen wesentlichen Bestandteil einer militanten Handlung sehen. Allerdings haben die Aktionen des zivilen Ungehorsams rund um die Braunkohlegebiete diesen Charakter verloren. U*Mn stellen sie, in ihrer gegenwärtigen Form, mehr ein eingehegtes, von allen Seiten berechenbares Schauspiel dar, anstatt einer Systemlogik entgegen zu stehen. Dennoch sehen wir* in der Gruppe an Menschen, die sich dem politischen Kampf für Klimagerechtigkeit verschrieben haben, das Potential einen Schritt weiter in Richtung Militanz zu gehen.

Einerseits, um für uns* selber eine bessere Vorstellung davon zu haben, was wir eigentlich unter Militanz und militanten Handlungen verstehen, aber natürlich auch, um dieses Verständnis in die Bewegung zu tragen, haben wir eine Militanz-Definition aufgestellt.

1. Motivation hinter militanten Handlungen

Unserem* Verständnis nach ist Militanz ein Mittel, welches nur im Kampf für eine radikal emanzipatorische Gesellschaft Anwendung finden sollte. Eine politische Handlung ist für uns* immer dann militant, wenn sie sich antagonistisch zur bestehenden Ordnung verhält. Militante Aktionen versuchen die herrschende Logik aufzubrechen und lassen sich von dieser nicht einhegen. Bei all dem ist es notwendig, die Bedingungen für militantes Handeln als dynamisch zu verstehen. Eine ständige Reflexion der bestehenden Verhältnisse und eine hierauf aufbauende Anpassung der Aktionsform ist notwendig. Die Militanz ist demnach ein Mittel zur Erreichung eines radikal emanzipatorischen Lebens.

2. Aktionistische Ebene von militanten Handlungen

Auf der aktionistischen Ebene bedeutet militantes Handeln die Erzeugung eines nachhaltigen Schadens – also eines Schadens, der über die physische Anwesenheit der Aktivist*innen hinaus bestehen bleibt. Dieser Schaden kann finanziell sein, aber beispielsweise auch...

Patriarchale Gewalt als geteilte Erfahrung?

Fr, 06/17/2022 - 11:32

Mit dem Ziel keinen Femi(ni)zid mehr unbeantwortet zu lassen, begann die feministische Bewegung »Claim the Space« in Wien ihre Politisierungsarbeit. Seit zwei Jahren treffen sie sich nach jedem Femi(ni)zid am ehemaligen Karlsplatz zu einer Kundgebung oder Demonstration. Für das Interview sprachen wir mit Frana von der AG Feministischer Streik.

Wie kam es dazu, dass ihr in Wien mit der Politisierung von Femi(ni)ziden begonnen habt? Gab es einen Auslöser?

In der österreichischen Linken waren Femi(ni)zide das erste Mal Anfang 2019 mehr Thema. Damals gab es eine Reihe Femi(ni)zide, die medial eine große Aufmerksamkeit bekommen haben. Zu dem Zeitpunkt war es vor allem die Identitäre Bewegung, die die Morde bei einem Gedenkmarsch in Wien aufgegriffen und rassistisch instrumentalisiert haben. Und auch konservative Politiker*innen ließen im Zuge dieser Debatte häufig verlautbaren, das Patriarchat sei importiert und Frauenmorde seien kein österreichisches Problem. Dieses Narrativ kennen wir alle, für uns war es damals aber das erste Mal seit der Kölner Silvesternacht 2015, dass sexualisierte Gewalt auf eine dermaßen rassistische Weise diskutiert wurde. Damals gab es den ersten Versuch von autonomen Feminist\innen, das Thema öffentlich aufzugreifen. Als wir 2020 erneut begannen zu Femi(ni)ziden zu arbeiten, stand am Anfang aber vielmehr der Fokus auf die Zusammenarbeit mit Ni Una Menos Austria und lateinamerikanischen Gruppen. Da ging es darum, ein globales Phänomen zu beschreiben, das wir auch hier in Österreich verstehen wollten.

In welchen Situationen geschehen Femi(ni)zide? Was sind die strukturellen Bedingungen einer solchen Form der Gewaltausübungen gegenüber FLINTA (Frauen, Lesben, intersexuelle, nonbinäre, trans sowie agender-Personen: Anm. d. Redaktion)?

Natürlich gibt es viele Gründe dafür, dass Femi(ni)zide verübt werden. Auch wenn es eine wachsende wissenschaftliche und juridische Auseinandersetzung mit dem Thema gibt, bleiben die Taten trotzdem meist recht individualisiert und die Täter*innen werden oft pathologisiert. Dass Femi(ni)zide mehr als nur Frauen betrifft, kommt nicht einmal im bürgerlichen Feuilleton an. Die strukturelle Komponente - also die Frage danach in welchen Abhängigkeiten FLINTA im Kapitalismus stecken - versuchen wir mit unseren Aktionen zu politisieren.

Ein erster Schritt ist für uns dabei überhaupt erstmal zu verstehen, wie verschiedene Femi(ni)zide zusammenhängen und welche Strukturen dabei jeweils wirken. Mit jedem Femi(ni)zid werden neue Fragen aufgeworfen. Es ist weniger so, dass wir die Kritik schon immer im Vorhinein haben und sie dann auf die Straße tragen, sondern wir müssen jedes Mal neu überlegen, was überhaupt die geschlechtsspezifische Komponente der Gewalt ist oder wie man den Fall politisieren kann und wie man möglichst viele patriarchale Gewaltformen miteinbeziehen kann, ohne dass es total losgelöst von den jeweiligen Subjektpositionen ist.

Gibt es Elemente und Motive, die ihr in den meisten Fällen wiederfindet? Und an welchen Punkten wart ihr überrascht und habt eure Analyse noch einmal verändern müssen?

Ausgangspunkt unserer Analysen ist eine feministische Kapitalismuskritik: Das bedeutet die Sphärentrennung in 'privat' und 'öffentlich' infrage zu stellen und Arbeitsbedingungen und Abhängigkeiten zu thematisieren. Ein Großteil der Gewalt an FLINTA geschieht im Privaten. Die bürgerliche Familie, die oft als rein und harmonisch imaginiert wird, stellt für sie den gefährlichsten Ort dar. In Österreich gibt es eine massive Verherrlichung der Kleinfamilie,...

Männlichkeit, Patriarchat & Krieg

Mo, 05/23/2022 - 22:03

Krieg ist patriarchal, jener in der Ukraine und die andernorts. Krieg funktioniert entlang klarer geschlechtlicher Rollenbilder und die mediale Berichterstattung tut ihr Bestes, alles fern des kämpfenden Mannes* und der flüchtenden FLINTA*-Personen unsichtbar zu machen. Und Das folgende »Kommuniqué No. 3« wurde nach anregenden Gesprächen unter Genoss*innen aus dem Rheinmetall-Entwaffnen-Bündnis verfasst.

Wenn wir von FLINTA*-Personen sprechen, sprechen wir von Frauen, Lesben, inter*-, nichtbinären*, trans* und agender* Personen.

Dieser Krieg ist kein Ort für Emanzipation und Befreiung. Längst überwunden geglaubte Ideologien betreten wieder die gesellschaftliche Bühne. In den Bildern, der Sprache und der Politik feiert die Militarisierung fröhliche Urständ. Dieser Krieg ist ein Ort des patriarchalen Rollbacks, insbesondere im kapitalistischen Gesellschaftssystem, in dem wir leben.

Die Fotoaufnahmen vom reitenden bzw. fischenden Putin mit nacktem Oberkörper dienen den Medien schon länger als willkommene Darstellung des russischen Staatschefs. Auch Selenskyj weiß als Schauspieler, wie er sich im olivgrünen Hemd bzw. mit schusssicherer Weste vor Kameras inszenieren kann. Bei allen Unterschieden dieser beiden: Hierbei geben sich die zwei Kriegsherren, der Angreifer und der Angegriffene, nichts. Sie spielen den männlichen Helden und werden gerne als solcher gesehen. Hinter den Bildern dieser beiden stellvertretenden Figuren verschwinden die Interessen und Ursachen der imperialistischen Kriege, über die wir hier schreiben.

Die Sprache des Krieges und der Krieg der Worte

Auch in ihrer Rhetorik gleichen sie sich. Putin und Selenskyj sprechen von »Tapferkeit« und »Heldentum«, von »hartem Kampf« und »ewigem Ruhm«. Mit ihrer kriegsverherrlichenden Sprache propagieren sie entgrenzte Gewalt und sowohl das Töten als auch das »Sterben fürs Vaterland«. Vor dem Hintergrund dieser fortschreitenden verbalen Eskalation können Friedensverhandlungen und Diplomatie – selbst auf dieser Ebene sind fast ausschließlich Männer beteiligt – nicht gelingen. Absurderweise setzen sich ausgerechnet Diktatoren und Kriegsherren wie Erdogan als Friedensvermittler in Szene, während dieser gleichzeitig die jesidische und kurdische Bevölkerung in Rojava und im Nordirak bombardiert. Denn imperialistische, militaristische Politik ist und bleibt patriarchal, egal ob sie von Frauen oder Männern gemacht wird. Eine neue Qualität und Quantität der Kriegsrhetorik kennen wir auch von bundesdeutschen Politiker*innen, hierzulande hat sich die Sprache ebenfalls innerhalb weniger Tage militarisiert.

Dieses Vokabular wird von Medien und Gesellschaft aufgegriffen. In den Kommentarspalten und in Sozialen Medien werden Selenskyj und Putin abwechselnd als »Freiheitsheld« gefeiert oder als »Schlappschwanz« beschimpft. Bestimmte Ideale von Männlichkeit werden damit extrem verstärkt und positiv besetzt. So wird das Soldaten- und Heldentum gesellschaftlich akzeptabler und patriarchale Strukturen gefestigt.

Antiquierte Geschlechterrollen werden reproduziert und zementiert

Aber es geht über die Bilder und die Sprache hinaus: Als Handelnde werden im Krieg meist Männer wahrgenommen. Frauen bekommen andere Rollen zugeschrieben; als Opfer von Gewalt, von Vergewaltigung und Vertreibung. LGBTQ*s sind nahezu unsichtbar. Wir erleben absolute Heteronormativität, die Zuweisung klassischer Frauenrollen und die selektive gesellschaftliche Beteiligung von Frauen nach patriarchalen Kriterien. Die Reproduktionsarbeit und Auswirkungen des Krieges haben auf allen Seiten vor allem Frauen zu tragen. Die Ukrainerinnen müssen die Kinder an sich nehmen und können bzw. sollen zum eigenen Schutz das Land verlassen. Die Männer bringen sie noch an die Grenze, um dann in den Krieg zu ziehen. Sie müssen...

Der Sieg der New Yorker Amazon-Arbeiter*innen

Mi, 04/20/2022 - 00:00

»Danke an Jeff Bezos - während er ins All geflogen ist, haben wir hier eine Gewerkschaft organisiert“. Mit diesen Worten feierte Organizer Chris Smalls die erste Gründung einer Amazon-Gewerkschaft in den USA. Welche Methoden der Basisorganisierung stehen hinter diesem sensationellen Erfolg der Amazon-Arbeiter*innen? Das beleuchten Luis Feliz Leon und Justine Medina.

Der Text ist im Original bereits am 01. April 2022 bei Labornotes erschienen. Wir haben uns entschlossen, ihn zu übersetzen, da das Wissen um Basisorganisierung wichtig für den Aufbau linker Gegenmacht auch hier bei uns ist.

Teil 1: Amazon-Arbeiter*innen auf Staten Island erringen historischen Sieg Luis Feliz Leon

Es klingt vielleicht ein bisschen wie im Märchen: Gestern wurde das unglaubliche wahr gemacht, als die zusammengewürfelte Truppe von Arbeiter*innen der Amazon Labor Union (ALU) bei einer Gewerkschaftswahl in einem Lagerhaus in Staten Island, New York, die Spitze übernahm und damit ein historischer Sieg gegen den Unternehmensriesen in Reichweite rückte.

Vor der Auszählung wurde die unabhängige Gewerkschaft in der Presse als Kuriosität behandelt und ihre Chancen komplett abgeschrieben. »Ich glaube wir wurden übersehen,« sagte die Schatzmeisterin der ALU, Madeline Wessley am Donnerstagabend. »Und ich glaube das endet morgen — mit unserem Sieg.«

Die ALU hat heute einen entscheidenden Sieg — mit großem Vorsprung — errungen und damit die erste gewerkschaftlich organisierte Arbeitsstätte im Amazon-Imperium der USA geschaffen. Die Zweigstätten von Amazon befinden sich vor allem in Metropolregionen wie New York, Chicago und Los Angeles — und das öffnet Tür und Tor für die weitere Organisierung der Arbeiter*innen.

Die Wahl ergab 2.654 Stimmen für die Gründung einer Gewerkschaft und 2.131 Stimmen dagegen. 8.325 Arbeiter*innen waren wahlberechtigt, 17 Stimmen waren ungültig. »Wir möchten Jeff Bezos dafür danken, dass er ins All geflogen ist. Während er da oben war, haben wir eine Gewerkschaft gegründet,« sagte der Präsident der ALU, Chris Smalls, nachdem die offiziellen Ergebnisse verkündet wurden. Ein weiteres Lagerhaus im selben Fabrikkomplex wird am 25. April zur Wahl stellen, sich mit der ALU gewerkschaftlich zu verbünden.

Die Anführer*innen rauspicken

Als am Donnerstagabend die ersten sechs der zehn Wahlurnen bereits ausgezählt waren, konnten sich die Arbeiter*innen vor lauter Aufregung und Unglauben kaum halten, es wurde gelacht und zu Hip Hop getanzt. »Es hat sich unwahrscheinlich angefühlt,« sagte der ALU-Vizepräsident Derrick Palmer, der vor der Lagerhalle stand und jedes Wort dabei betonte. »Aber wir haben es einfach gemacht, wir Arbeiter*innen, wir haben uns gegen das zweitgrößte Privatunternehmen des Landes organisiert.«

Je mehr Palmer die Details darüber ausbreitete, was genau die Gewerkschaft unternommen hatte, um diese beeindruckende Aufgabe zu bewältigen, desto mehr wurde klar, dass beim Sieg der Gewerkschaft weder Zauberei noch Glück im Spiel waren: Es war kleinteiligste Basisorganisierung von Arbeiter*in zu Arbeiter*in, die das Ergebnis erzielte. Palmer ist bereits seit drei Jahren in dem weitläufigen Warenhaus-Komplex beschäftigt und glaubt, dass 70% seiner direkten Kolleg*innen überzeugt mit Ja gestimmt haben. »Ich hab quasi meine gesamte Ableitung bekehrt,« sagte er. »Ich schau mir dann so eine Gruppe an Freund*innen an und such mir dann deren Anführer*in raus. Was auch immer der*die dann sagt, wird die Gruppe...

Was geht eigentlich ab in Russland?

Do, 04/14/2022 - 13:48

Enteignet die russische Oligarchie!? Ja, sagt Dietmar in diesem Artikel, in dem er uns an seinen Beobachtungen und Analysen der Situation in Russland seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine teilhaben lässt.

Einige Bemerkungen vorab: Dieser Beitrag wurde noch bevor die Massaker in Butscha und den Vororten von Kiew bekannt wurden, fertiggestellt. Er ist also nicht als Reaktion darauf entstanden und ich halte es für notwendig den*die Leser*in vorab darauf hinzuweisen, auch wenn ich versucht habe, ihn entsprechend zu ergänzen.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat nicht nur bürgerliche Politiker*innen und Analyst*innen überrascht, sondern fordert auch viele Selbstverständnisse der Linken heraus. In Stellungnahmen linker Gruppen ist häufig von »imperialistischer Konkurrenz« und »Kapitalinteressen« die Rede, doch wirken solche Erklärungen angesichts der einseitigen Eskalation von russischer Seite wenig aussagekräftig und eher wie Selbstversicherungen der eigenen Positionen und Weltbilder. Linke aus Osteuropa wiederum beklagen, dass in den Analysen ihrer westlichen Genoss*innen meist nur die NATO-Länder als treibende Akteur*innen auftauchen, Osteuropa darin hingegen ohne eigene politische Subjektivität erscheine. Ich denke, das liegt auch an einer großen Unwissenheit über den postsowjetischen Raum. Dieser Text versucht daher, diese Lücke ein wenig zu schließen. Er geht der Frage nach, welche gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse den postsowjetischen Raum, insbesondere Russland, bestimmen und welche Eigendynamiken und Widersprüche sich ausmachen lassen. Es handelt sich jedoch nicht um eine konsistente Analyse. Ich selbst habe mich ebenfalls erst nach Ausbruch des Krieges intensiver mit der Thematik befasst und kann daher nur einige vorläufige Überlegungen präsentieren. Ich halte es jedoch für notwendig, sich genauer mit diesen Fragen zu beschäftigen, um unsere strategische Bestimmung auf einer solideren Grundlage treffen zu können. Ich hoffe daher, dass mein Beitrag zu einer weiteren Diskussion und Beschäftigung anregt, Kritik und Widerspruch eingeschlossen.

Russland – eine semiperiphere Großmacht

Russland kann als semiperiphere Großmacht innerhalb des kapitalistischen Weltsystems bezeichnet werden. Die Situierung in der Semiperipherie kann darauf zurückgeführt werden, dass Russland ökonomisch gegenüber den Staaten des kapitalistischen Zentrums (USA, EU, Japan, bald wohl auch China) als Rohstofflieferant von vor allem Öl und Erdgas für deren Industrie und als Absatzmarkt für deren – insbesondere deutsche - Fertigprodukte fungiert. Auf der anderen Seite befindet sich Russland in einer hegemonialen Position gegenüber seiner eigenen Peripherie, vor allem den Ländern des postsowjetischen Raumes. Der einzige relevante Export von Fertigprodukten aus Russland geht in diese Länder. Außerdem bestehen enge Verflechtungen mit den dort herrschenden Eliten. Zugleich verfügt Russland über ein beachtliches Arsenal an Nuklearwaffen und über eine im Vergleich zu seiner ökonomischen Basis überproportionale Militärmacht, die ihm zusammen mit seiner hegemonialen Position im postsowjetischen Raum die Ausübung einer geopolitischen Großmachtrolle erlaubt.

Von »Soft Power« und »Hard Power«

Die eigene Hegemonie beginnt seit Anfang der 2000er Jahre zu bröckeln, wie in den diversen Farbenrevolutionen im postsowjetischen Raum deutlich wurde, bei denen prowestliche Eliten jene russlandorientierten von der Macht verdrängten. Die eigene »Soft Power«, die im Wesentlichen in der Beschwörung kultureller Gemeinsamkeiten und einem Schuss Sowjetnostalgie besteht, erweist sich als unzureichend angesichts großer sozialer Ungleichheiten und autoritärer Staatlichkeit. Diese versucht Russland zunehmend...

Existieren verboten

So, 04/10/2022 - 18:05

Die sogenannten LGBT-freien Zonen sind mittlerweile in Polen zur Wirklichkeit geworden. Tausende von queeren Menschen­ wohnen in Städten und Gemeinden, wo ihre bloße Existenz sie in Gefahr bringt. Dem zugrunde liegt ein ideologischer Machtkampf um »erwünschtes« Leben, den Politik und Kirche zu gewinnen scheinen, argumentiert Magdo in diesem Debattenbeitrag.

In Polen sind faschistische Politiker in weißen Hemden schon ganz oben. Die Mitglieder rechtspopulistischer Parteien wie Recht und Gerechtigkeit (PiS – Prawo i Sprawiedliwość) und Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja Wolność i Niepodległość) machen keinen Hehl daraus, dass ihre Ansichten von Nazi-Denkern geprägt wurden. Und die populistische Regierung kokettiert nicht nur mit ihnen – es sind bereits Menschen an der Macht, die rechtsextreme Ideologie in den politischen Mainstream einführen und damit unter anderem Queermisia (1) und Transmisia (2) in der Gesellschaft aktiv vorantreiben.

Rechtsextreme Aktivist*innen wie Kaja Godek stellen sich vor Kirchen und sammeln Unterschriften, Projekte wie «Stopp LGBT» und «Ja zu Familie; Nein zu Gender» gewinnen an Zuspruch. Ihre Rhetorik basiert auf der Prämisse, dass «Genderideologie», Bi- und Homosexualität sowie Transidentitäten, Atheismus und Sexualerziehung nicht natürlich seien, weil sie «traditionellen polnischen Idealen» widersprechen.

Die «LGBT-Ideologie», wie sie es nennen, wird dabei als die Quelle allen Übels heraufbeschworen: «Haltet das von unseren Kindern fern. Kein Gender in den Schulen.» (Als nicht-binäre Person stimme ich letzterem allerdings zu. Lasst uns aufhören, Kinder nach Geschlecht zu kategorisieren.) Alles, was queer ist, stammt zwangsläufig aus dem Westen, zielt auf die Zerstörung der traditionellen Familien ab und leugnet die göttliche Ordnung der Dinge. Interessanterweise scheinen jene patriotischen Fanatiker*innen zu vergessen, dass auch der Katholizismus einst aus dem Westen kam und heidnische slawische Glaubensvorstellungen überschrieb. Kulturen, die nicht-heteronormative, inhärent queere Gottheiten feierten, die später zu christlichen Heiligen umgestaltet wurden.

Dieses eine Wort, das die Far-Right-Anhänger*innen zu triggern scheint – Ideologie – wird dabei de facto gleichgesetzt mit queeren Personen. Als ob Identität eine Wahl oder Sekte wäre, der man beliebig bei- und austreten könnte. Geschickt nutzt der Begriff der «LGBT-ideologiefreien Zonen» auch die aktuelle Gesetzeslage aus: Ende Juni 2019 entschied das Verfassungsgericht, dass Glaubens- und Gewissensprinzipien als Grund für die Verweigerung eines Dienstes ausreichen. Die Konservativen haben das Urteil laut gefeiert. Die Zeitung Gazeta Polska hat sogar Sticker mit durchgestrichener Regenbogenfahne verbreitet. Manche Unternehmer*innen haben sie in ihren Einrichtungen aufgeklebt. Die Ähnlichkeit mit «Nur für Deutsche» ist unheimlich.

Queersein in Polen

Was bedeutet all dies für queere Personen in Polen? Ich selbst musste Polen verlassen, um meine eigene Identität zu entdecken und vor allem zu akzeptieren. Meine polnischen Freund*innen in Berlin sind Personen, die sich in Polen nicht sicher fühlen. Die, die noch in Polen wohnen, versuchen, ein besseres Leben in den Großstädten zu finden. Im Kollektiv versuchen wir, mit Aktivist*innen vor Ort in Kontakt zu bleiben und konnten so z.B. Morning-After-Pillen aus Deutschland nach Polen bringen.

Wir alle haben queere Freund*innen und Familienmitglieder, die jeden Tag Angst haben, auf die Straße zu gehen. Sich zu outen ist für viele lebensbedrohlich. Sichtbar queere Menschen werden angestarrt und angegriffen, Bildungsarbeit und Aufklärung sind kaum vorhanden.Wir können in...

Von Bildsprache, Diskursintervention und antifaschistischen Klimakämpfen

Mo, 03/07/2022 - 18:55

Bereits im Sommer 2021 hat Ende Gelände mit zwei parallelen Aktionswochenenden in Hamburg und Brunsbüttel erstmals die Energiequelle Gas als Klimakiller in den Fokus gerückt. Zudem sollten koloniale Dimensionen sichtbarer als je zuvor gemacht werden. Dieser Bericht blickt unter anderem zurück auf geglückte Störungen, ausbaufähige Realpolitik und die Rolle der Bildsprache.

1. Rückblick

Im letzten Sommer haben wir mit Ende Gelände viel Neues gewagt: Das geplante LNG-Terminal (LNG = Flüssigerdgas) in Brunsbüttel als neues Hauptaktionsziel in einer uns unbekannten Region, Gas als neuer thematischer Fokus und eine noch stärkere internationale Einbettung der Aktion. Dazu kam der Anspruch, antikoloniale und antirassistische Kämpfe sichtbarer zu machen und der Versuch, noch stärker Barrieren im Klimagerechtigkeitsaktivismus abzubauen. In Brunsbüttel kamen dafür ca. 2.000 und in Hamburg einige Hundert Aktivist*innen zusammen.

Nachdem am Freitag eine Soli-Aktion auf dem Camp in Solidarität mit den Kämpfen weltweit und mit der uns besuchenden Delegation stattfand, verließen die Finger am Samstagmorgen kraftvoll das Camp, überquerten teilweise mit Fähren den Nord-Ostsee-Kanal und besetzten erste Schienen. Am Nachmittag wurde von einer Kleingruppe der Nord-Ostsee Kanal für Stunden blockiert, während manche Finger noch versuchten, ihre Aktionsziele zu erreichen, oder weiterhin Schienen bis in die Morgenstunden des Sonntags besetzt hielten. In Hamburg gab es Raum für BIPoC Vernetzung und eine kraftvolle Sponti, nachdem die ZU Aktion leider nicht wie geplant stattfinden konnte. Letzteres hat, in unserer Wahrnehmung, bei vielen Menschen Fragezeichen und Diskussionsbedarf hinterlassen. Zu den Ursachen sowie Schlussfolgerungen wurde und wird innerhalb der Bewegung noch viel diskutiert. Wir können zu diesem Zeitpunkt keine »Auswertung« dazu machen – wir werden aber auf jeden Fall weiterhin, einzeln und strukturell als Bewegung, unsere Rassismen reflektieren und abbauen.

2. Auswertung

Im Rahmen unseres Auswertungsprozesses in Hinblick auf die politische Wirksamkeit der Aktion haben sich vor allem drei Schwerpunkt-Themen aufgetan, die wir nachfolgend mit euch teilen wollen. Erstens, das Spannungsfeld zwischen symbolischen Blockaden und Blockaden, die tatsächlich den Ausstoß von CO2 verringern oder zumindest finanziellen Schaden bei fossilen Unternehmen anrichten. Letztere bezeichnen wir nachfolgend als effektive oder wirksame Blockaden. Zweitens, unser Verhältnis zu Staat und Repressionsorganen. Und drittens, die Zielsetzung und der Erfolg der Diskursintervention.

Symbolische vs. effektive Blockade

Von Aktivist*innen wurde in Bezug auf Wirksamkeit und Empowerment in der Aktion Unterschiedliches berichtet. Manche waren den ganzen Tag lang unterwegs, ohne an ein Aktionsziel zu kommen und sind dennoch sehr ermutigt aus den Aktionen gegangen. Andere haben gefühlt den ganzen Tag lang pleniert und waren sich unsicher, wie das konkret zu einer Änderung der herrschenden Zustände beigetragen hat. Wieder andere sind relativ fix an ihr Aktionsziel gekommen, haben aber nicht verstanden, warum dieses Ziel angesteuert wurde und ob wirklich effektiv Betriebsabläufe durch die Blockade gestört werden und der fossile Kapitalismus somit am kontinuierlichen »weiter so« gehindert wird. So überwog am Ende doch der Eindruck, dass die Aktion zumindest nicht so empowernd war wie frühere EG Aktionen, bzw. das Gefühl der Wirkmächtigkeit der eigenen Handlungen nicht so ausgeprägt war.

Bereits im Vorfeld der Aktion war klar, dass die Bildsprache einer Kohlegrube inklusive monströser Bagger deutlich eindrucksvoller ist als...

Die Distanz zwischen Identität und Solidarität

So, 02/20/2022 - 20:06

Berena, Vincent und Peter sprechen über Nähe und Distanz, über Identitätspolitik und migrantisch situiertes Wissen, über gemeinsame Kämpfe um Befreiung und globale Solidarität in Zeiten der Pandemie.

Dieses Gespräch steht im Kontext der Pandemie. Gleich zu ihrem Beginn hat Rassismus auf viele Weisen sein Gesicht gezeigt: der rassistische Anschlag in Hanau, wenig später der Mord an George Floyd durch Polizisten in Minnesota. Feldarbeiter:innen wurden eingeflogen, während Moria in Flammen stand und Menschen dort schutzlos der Pandemie und allen anderen widrigen Bedingungen des Grenzregimes ausgeliefert waren. Während die Regierungen hierzulande versuchten, das Virus durch Grenzen und Bullen zu kontrollieren, liegt es auf der Hand, dass es ohne eine Patentfreigabe und ohne die Möglichkeit zur Impfung überall nicht gelingen wird, mit der Pandemie umzugehen.

Vincent: Einen Tag nach dem Anschlag in Hanau haben sich Angehörige, solidarische Zivilgesellschaft und Aktivist*innen in Hanau versammelt. Ich bin mit zwei Bandkollegen am 20. Februar zu der ersten Kundgebung gefahren und war überrascht, wie viele Menschen ich vor Ort kannte. Wir lagen uns in den Armen, trösteten uns, standen einander bei - ich wurde von meinen Freund*innen gut aufgefangen. Aber was ich gesehen habe, war eine seltsame Mischung: Auf dem Podium sprach ein Politiker von einer wehrhaften Mitte der Gesellschaft und neben nationalistischen türkischen Symbolen wurden MLPD-Fahnen, wie immer schön dezentral, geschwenkt. Irgendwo wurde noch ein mutloser linker Spruch gejohlt. Sowas wie »Kapital, Staat, Scheiße!«“ oder »Hass, Hass, Hass wie noch nie!«.

Berena: In der iL haben viele BiPoC beschrieben, dass sie sich links und rechts umgeschaut haben, aber keinen emotionalen Resonanzraum hatten. Sie haben sich allein gefühlt und sind wütend. Dass deutsche Aktivist*innen ihre Gefühle oft außerhalb des Plenumraums lassen, was sich dann auch in der Politik äußert, die sie machen, mag dazu beigetragen haben. Aber ich glaube, dass der gesellschaftliche Rassismus nach wie vor tief sitzt, auch bei Linken. Bei mir entsteht oft das Gefühl, dass es am 19.2. einen Anschlag auf "die Anderen" gab. Kanax und Shishasbars sind oft immer noch fremd. Für viele Kanax und BiPoC ist das anders. Wir denken: »Es hätte auch mich treffen können, meine Freund*innen, meine Kinder...«. Ich glaube, dass dieser Anschlag auch von Menschen, die keine Rassismuserfahrungen machen, als etwas sehr Nahes erlebt werden kann, aber Rassismen und unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität zu dieser Distanz führen. Während ein bestimmtes Spektrum der antirassistischen Landschaft direkt vor Ort war, waren es andere Teile der radikalen und organisierten Linken nicht. Während die einen sehr nah mit Betroffenen Politik machen und Freundschaften entstehen, arbeiten andere an ihnen vorbei und bleiben in ihrer Bubble.

Vincent: Aber ich wurde auch positiv überrascht: Es gab ein enormes mediales Interesse an dem Ereignis, anders als es mit dem NSU der Fall war. Während damals rassistisch von »Dönermorden« geschrieben worden war, hatte ich den Eindruck, dass bei Hanau die Perspektive der Betroffenen häufiger im Zentrum stand. Das ist eine Errungenschaft migrantischer Communities und von Antirassist*innen, die immer wieder für Öffentlichkeit, Erinnerung und Gedenken hinsichtlich rassistischer und rechter Gewalt gekämpft haben. Beispielsweise die Inititative 19. Februar und die...

Ein historisches Unterfangen.

So, 02/13/2022 - 16:37

Im letzten Jahr sind Delegationen der Zapatistas durch Europa gereist und haben hiesige Kämpfe und Kämpfende besucht und kennengelernt. Von den lehrreichen Prozessen im Vorfeld, den wertschätzenden Begegnungen währenddessen und den Einsichten im Nachhinein berichtet die InterSol AG der iL, die mit an der Umsetzung der Reise beteiligt war.

Die Idee

Es scheint eine Ewigkeit her, und doch sind seitdem nicht einmal anderthalb Jahre vergangen. Im Oktober 2020 kündigte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) an, im darauf folgenden Jahr den europäischen Kontinent bereisen und die hiesigen Kämpfe und Kämpfenden kennenlernen zu wollen. In einem tatsächlich internationalistischen Akt wollten sie Perspektiven für den eigenen Kampf suchen und auftun. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Ein halbes Jahrtausend zuvor wurde, der Geschichtsschreibung der Herrschenden zufolge, das uns heute bekannte Mexiko erobert. Das Jahr 1521 markiert Kolonialisierung und Tod, aber auch Widerstand und Überleben. Diesem Ereignis sollte nun antagonistisch ein Zeichen für das Leben entgegen gesetzt werden, indem einige hundert indigene Delegierte aus Chiapas entsandt werden sollten, um ein Europa von links unten kennen zu lernen. Ihr Vorhaben betitelten die Zapatistas daher auch als »Reise für das Leben«. In dem Aufruf wurden unterstützende Gruppen gesucht, die verbindlich einladen, organisieren und und die Reise begleiten sollten. Die Zapatistas trafen keine Vorauswahl, wer einladen durfte, die Vorgaben über die Inhalte für die Zusammentreffen waren sehr vage, erst recht die Dauer und die technischen Details der Reise. Die EZLN hat sich selbst eingeladen, und die europäische Linke sollte sich dafür eigenständig organisieren. So ein Projekt ist ungewöhnlich und wurde zur Herausforderung, wie sich zeigen wird.

Zunächst sagten immer mehr linke und emanzipatorische Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen überall in Europa zu. Lokale, regionale sowie überregionale Koordinationskreise entstanden daraufhin und arbeiteten über Monate mehr oder wenig regelmäßig für die Vorbereitung des Zwischenstopps in der eigenen Region. Darüber hinaus gab es eine bundesweite Vernetzung, die sich regelmäßig überwiegend online traf. Das Resultat war ein mitunter sehr chaotischer Ablauf in den unterschiedlichen lokalen Vorbereitungskreisen. Dies war die Folge von nicht getroffenen Absprachen, wie Kommunikation und Entscheidungsfindung in der Zeit des Aufenthaltes der Zapatisten stattfinden solle, aber sicherlich auch ein Ergebnis davon, sich eher unfreiwillig in dieser Akteur*innenzusammensetzung gefunden zu haben. In dieser Gemengelage übernahmen unterschiedliche lokale und bundesweite Strukturen Aufgaben und Verantwortung, darunter auch die interventionistische Linke.

Das große Warten

Die Vorbereitung zog sich Mitte 2021 in die Länge. Der mexikanische Staat verweigerte im Zuge einer rassistischen Logik gegenüber seiner eigenen indigenen Bevölkerung die Ausreisedokumente, und Frankreich bediente sich der Pandemie, um eine Einreise zu verhindern. Über Wochen war nicht klar, wann die Reise mit wie vielen Compañer@s beginnen kann.

Ursprünglich war geplant, dass die Zapatistas am 13. August eine europaweite Demonstration in der spanischen Hauptstadt abhalten würden. An diesem Tag jährte sich ein Massaker im heutigen Mexiko-Stadt zum 500ten Mal. Dieser Termin war symbolträchtig und steht für den oben genannten Kolonialismus und den Widerstand dagegen. Statt der kompletten Delegation fand sich die siebenköpfige zapatistische Vorhut in Madrid ein, die Monate zuvor in einem Segelmanöver, das...

Seiten