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Fr, 06/21/2024 - 08:13

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Fr, 06/21/2024 - 08:13

Die aktuelle Lage und die Zukunft. Ein Interview mit Toni Negri

Do, 06/20/2024 - 06:53

Vor wenigen Tagen gab der italienische Theoretiker und Aktivist Toni Negri dem linken Radiosender Onda D´Urto ein Interview. Darin äußert Negri Hoffnung, dass sich die EU aufgrund Corona zukünftig doch noch verstärkt um das Gemeinschaftliche kümmern wird - "der Neoliberalismus ist an einen kritischen Punkt angelangt." Ebenso sieht er in der jetzigen Krise, ungleich zu der im Jahr 2008, die Möglichkeit, dass wir "uns die soziale Reproduktion des Gemeinwesens aneignen" können. Im Folgenden die Abschrift und Übersetzung des Interviews.

Wie siehst du die aktuelle Situation - die COVID-19 Pandemie? Entlarvt sie die neoliberalen Politiken und die inneren Widersprüche im Kapitalismus oder ist das zu simpel gedacht?

Naja, ich weiss nicht, ob es einfach oder komplex ist, aber mir scheint es wahr. Der Neoliberalismus hat einen Deckel von gewaltiger Kraft auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung unserer Länder gelegt. Es gab einen finanziellen Deckel, der bis in die kleinsten Details kontrolliert wurde und der einer Struktur der Produktion und der Reproduktion folgte, die immer breiter und komplexer wurde, und in der ohne Zweifel sowohl natürliche als auch produktive Elemente - d.h. zwei mal natürlich - eingebettet wurden.

Heute ist das Zusammenspiel zwischen dieser Muschel [im Sinne einer Hülle; Anm. d. Ü.] der finanziellen Kontrolle und der Muschel der menschlichen Interaktion - d.h. zwischen produktiven und reproduktiven Verhältnissen - ausgesetzt worden. In dieser Krise werden die Prozesse des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Produktion von Reichtum und Leben unterbunden. Die kapitalistischen Verhältnisse, die die Produktion und die Reproduktion, abdecken sollten, werden als hinderlich für die reale Entwicklung erkannt.

Ich halte das, angesichts der Rede von Ursula von der Leyen, für einen sehr wichtigen Punkt. Sie sagt, dass sich die reale Ökonomie jetzt selbstständig fortbewegen solle und dass wir ihr folgen werden müssen. Das ist einerseits erstaunlich, andererseits explosiv. Erstaunlich, weil sie erkennt, dass so wie die Situation bisher gelaufen ist, nicht mehr einzudämmen ist. Explosiv, weil sie konkrete Räume für gemeinschaftliche Antworten und Programme öffnet. Wir müssen selbstverständlich schauen, was es bedeutet.

Um zurück zu deiner Frage zu kehren: es ist eindeutig, dass der Neoliberalismus an einen kritischen Punkt gelangt ist. Das hat einerseits auch mit dieser seltsamen Sache, mit diesem Virus zu tun, der tödlich ist, und keineswegs etwas mit einer normalen Grippe zu tun hat- das wäre schön! - und uns alle betrifft. Dieser Virus ruft in jeder Hinsicht undenkbare Notstände hervor. Andererseits, wird diese Krise der neoliberalen Leistungsfähigkeit auch von anderen Sachen wie z.B. der Kontinuität der sozialen Kämpfen gegen den Neoliberalismus begleitet, die z.B. in Frankreich und Großbritannien gewaltig gewesen sind.

Schon bevor es die Angst gab, dass sich die Situation in Frankreich analog zu der in Italien entwickeln könnte, musste Macron vor den Kämpfen der gilet jaunes und der Gewerkschaften zittern. Diese haben die Situation für ihn unkontrollierbar gemacht, sodass er gezwungen wurde, die Rentenreform zurückzuziehen. Aktuelle Kämpfe haben in vielen Ländern eine entscheidende Rolle darin gespielt, dass am Ende repressive Maßnahmen gegen soziale Bewegungen eingestellt wurden. Diese Kämpfe waren auch in Italien massiv, sowohl in den Betrieben,...

IL im Umbruch

Do, 06/20/2024 - 06:10

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Di, 06/18/2024 - 15:47

Debatte: IL im Umbruch

Di, 06/18/2024 - 14:12

"[Wir blicken] auf eine düstere Gegenwart. Die Linke ist weltweit in der Defensive. Das rechte Projekt der Abschottung, Spaltung und Leugnung der Klimakrise hat Konjunktur. Die Staaten werden nach innen autoritärer und nach außen kriegerischer, ob nun angeführt von vermeintlich progressiven Parteien oder rechten Antidemokrat*innen. Beide haben keine tragfähigen Antworten auf die multiplen Krisen. Gerade jetzt bräuchte es als Alternative eine Linke, die Hoffnung und Orientierung geben kann. Aber es ist uns nicht gelungen, die Bewegungserfolge des letzten Jahrzehnts in einem gemeinsamen, widerständigen Pol zu bündeln und grundlegende Veränderungen zu erkämpfen. Der Kapitalismus sitzt fest im Sattel."

Zwischenstandspapier #2, Einleitung

Auch wenn alles so düster scheint: Wir sind noch und wir sind sicher noch nicht fertig. Deshalb haben wir uns vor vier Jahren daran gemacht, ein neues Grundsatzpapier zu schreiben. Wir haben in diesem Prozess versucht, die Welt zu verstehen, um sie zu verändern. Dabei haben wir unsere Analyse erneuert und unsere Strategien und Taktiken auf den Prüfstand gestellt. Wir sind an unzähligen Orten und in wechselnden Konstellationen zusammengekommen, um zu diskutieren und zu streiten. Einiges haben wir dabei auf den Punkt gebracht, an anderen Stellen sind wir fragender als zuvor. Manchmal sind wir in unserem Papier mutig, manchmal zurückhaltend. In keinem Fall sind wir aber überzeugt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

Deshalb brauchen wir euch. Das Papier ist zwar fertig, aber das Ringen um eine Neugründung einer undogmatischen, radikalen Linken auf der Höhe der düsteren Zeit hat gerade erst begonnen. Den Prozess, den wir intern angefangen haben, wollen wir nun mit euch – unseren Genoss*innen von hier wie dort, Wegbegleiter*innen, Friends – fortsetzen. Wir laden euch ein, euch zu äußern, zu kommentieren, mit uns zu streiten über das, was wir aufgeschrieben haben und das, worin wir uns nicht sicher sind.

Wie können wir uns gleichzeitig gegen die rechte Formierung und die grüne Modernisierung wenden, ohne uns dabei falsche Freunde zu machen? Ist diese analytische Aufteilung überhaupt sinnvoll, oder stehen wir vielmehr einem autoritären Kompromiss beider Lager, einem "autoritären Festungskapitalismus" gegenüber? Bedeutet Antifa Sozialpolitik oder klare Kante? Bedeutet Klimagerechtigkeit Klassenkampf oder militante Aktionen gegen die imperiale Lebensweise? Wie können wir die Ritualisierung unserer Aktionsformen aufbrechen und über Diskursverschiebung und schöne Bilder hinauskommen? Brauchen wir mehr Organizing oder mehr Militanz – widerspricht sich das überhaupt? Wie können wir breite Bündnisse schmieden, wenn wir oft nur auf Einzelpersonen treffen? Was bedeutet es, linksradikale Politik durch die Krisenhaftigkeit der Welt, die Kriege, die Polarisierung und unsere eigene gesellschaftliche Marginalisierung hindurch zu machen? Geht es noch um Gegenmacht oder nicht vielmehr ums Überwintern?

Sicher drängen sich euch beim Lesen noch viel mehr Fragen auf. Fragen, auf die wir vielleicht gar nicht kommen würden. Wir sind gespannt auf eure Antworten. Schickt uns eure Debattenbeiträge zwischen 3.000 und 10.000 Zeichen an folgende Mailadresse: kontakt@interventionistische-linke.org.

Unser Zwischenstandspapier findet ihr unter: https://interventionistische-linke.org/umbruch

Wir wollen eure Zweifel, euer Lob, euer Weiterdenken, eure Kritik hören. Vorerst laden wir euch dazu ein, Texte zu verfassen. Folgen werden auch Einladungen an Orte der Zusammenkunft. Denn wir wollen mit euch zusammenkommen,...

In eigener Sache

Di, 06/18/2024 - 13:58

Liebe Lesende und Diskutierende,

wie einige von euch womöglich schon mitbekommen haben, veröffentlichen wir aktuell keine neuen Beiträge auf diesem Blog. Das liegt vor allem an (personeller) Veränderungen in unserer Redaktion, die in ihrer Arbeit über den Winter zeitweise ganz pausierte. Das ändert sich nun mit der Veröffentlichung eines neuen Zwischenstandspapiers der IL. Fortan wird unser Blog vor allem der Kommentierung und Diskussion jenes Papiers dienen. Hier geht es zum Call for Comments.

Wir erfragen derzeit aufgrund begrenzter Ressourcen unserer Redaktion nicht aktiv neue Diskussionsbeiträge. Schreibt uns dennoch für Rückmeldung, Kritik oder Textvorschlägen! Wir melden uns möglichst zeitnah mit einer Rückmeldung zurück.

Fragend schreiten wir voran, hoffentlich bald auch mit mehr Debatte auf unserem Blog!

Eure Blogredaktion

Bildnachweis: Pieter van der Heyden - Der Frühling

In eigener Sache

Di, 06/18/2024 - 13:44

Kontakt

Di, 06/18/2024 - 10:08

Wir laden auf unserem Blog derzeit vor allem Debattenbeiträge und Kommentare zu unserem neuen Zwischenstandspapier hoch. Andere Debattenstränge schaffen wir gerade leider nicht zu pflegen oder um neue Beiträge zu ergänzen. Wir hoffen das ändert sich bald wieder!

Wenn Ihr Anregungen, Kritik oder Rückfragen habt oder Euch – als Einzelperson oder Gruppe – mit einem eigenen Beitrag in die Debatten einbringen möchtest, könnt Ihr euch jederzeit per Mail an uns wenden.

Mail-Adresse: blog@interventionistische-linke.org
PGP-Key: download

Wenn Ihr einen eigenen Beitrag verfassen möchtet:

Schickt uns doch bitte vorab ein paar Stichworte oder eine kurze Beschreibung, worum es gehen soll, dann können wir gemeinsam überlegen, wann und wo der Text am besten reinpasst. Am liebsten sind uns kurze Kommentare (max. 3500 Zeichen) oder Debattenbeiträge (max. 7000 Zeichen), alles andere veröffentlichen wir nur in begründeten Ausnahmefällen.

Für ein Ende der Gewalt

Mo, 11/27/2023 - 15:17

Das Ausmaß an Gewalt und militärischer Vergeltung, das sich mit und seit dem 7.Oktober in Israel und Palästina materialisiert, ist kaum zu begreifen. Ein Versuch der IL Frankfurt, sich nicht in den Abgrund der Entmenschlichung und Kriegslogik hineinziehen lassen, sondern eine politische Haltung zu entwickeln.

Am 7. Oktober verübten die Hamas und ihre Verbündeten mit ihrem Terrorüberfall auf Israel ein beispieloses antisemitisches Massaker. Mehr als 1.200 Menschen, überwiegend Jüd:innen, wurden brutal ermordet, viele Weitere verletzt, vergewaltigt, vertrieben und traumatisiert. Noch immer werden über 200 Geiseln im Gazastreifen festgehalten, ihre Situation ist unklar. Die israelische Regierung antwortete mit einer kompletten Abriegelung des Gazastreifens, inklusive lebensnotwendiger Güter wie Essen,sauberes Wasser, Medizin und Treibstoff für (Strom-)Generatoren, und startete umfassende Luft- und Artillerieangriffe. Seit dem 27. Oktober ist die israelische Armee in den Gazastreifen einmarschiert und hat ihn in Norden und Süden geteilt. 1,5 Millionen Palästinenser:innen wurden vertrieben, weit über 10.000 getötet und ermordet, Zehntausende verletzt oder unter Trümmern begraben.

Während wir täglich Berichte und Bilder dieser furchtbaren Eskalation sehen, nimmt die antisemitische Gewalt zu. Pro-palästinensische Demonstrationen werden polizeilich drangsaliert oder unterbunden. In den deutschen Feuilletons überschlagen sich vermeintliche Wahrheiten und Anschuldigungen. Öffentliche Veranstaltungen werden abgesagt, Referent:innen ausgeladen, Kooperationen aufgelöst.

Als radikale Linke straucheln wir und versuchen, das Ausmaß an Gewalt und militärischer Vergeltung zu begreifen, das sich mit und seit dem 7.Oktober materialisiert. Auf keinen Fall wollen wir uns in den Abgrund der Entmenschlichung und Kriegslogik hineinziehen lassen, der sich ausbreitet – auch und vor allem hierzulande. Sprechen wir also mit all jenen, deren Herzen voller Schmerz sind, die aber trotzdem begreifen und eine politische Haltung entwickeln wollen.

Das Recht auf Leben – für alle

Zu sagen, was ist, scheint selbst einigen unserer Freund:innen und Genoss:innen schwer zu fallen. Zu groß sind die Fliehkräfte der Polarisierung, zu abscheulich sind die begangenen Verbrechen der Hamas, zu gewaltsam das militärische Vorgehen der israelischen Regierung, zu groß die Angst, etwas Falsches zu sagen. Als Linke sollten wir dem vorherrschenden Positionierungsdruck widerstehen und uns einem Bekenntniszwang entziehen, dem es nur um die eigene "Wahrheit", nicht aber um Verständnis geht. Wir wollen und können uns auf keine andere Seite stellen, als die der Menschen, die unter dem Terror, den Raketen und der Besatzung leiden, die ihre Liebsten verlieren und um ihr eigenes Leben fürchten, deren Stimmen im Kriegsgetöse untergehen, die sich der Kriegslogik entziehen und die trotz des religiösen und nationalistischen Taumels nicht aufhören, ihre Kämpfe von unten zu führen.

Angesichts der allgemeinen rhetorischen, wie militärischen Entmenschlichung, der unbedingten Rechtfertigung des militärischen Vorgehens – trotz dessen offensichtlicher Entgleisung –, gilt es, das Recht auf Leben für alle zu verteidigen, wenn es sonst niemand mehr tut. Es gilt, alle Toten zu betrauern und das Leid der Anderen empathisch anzuerkennen, auch wenn die eigene Verletzung und die Wut tief sein mögen. Es gilt, die Rechtfertigung des Horrors durch vorangegangene Verbrechen konsequent zurückzuweisen. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte darf nicht aufgegeben werden. Eine Linke, die hinter diesem Anspruch zurückbleibt, kann einpacken. Es gilt, sich der falschen Polarisierung zu entziehen, das Entweder-oder zurückzuweisen...

Handeln in den Krisen, die kommen

Sa, 11/18/2023 - 17:17

Dieser Text ist das Ergebnis vieler Diskussionen und Gespräche und vieler klugen Gedanken, die Basti mit Genoss*innen geführt und geteilt hat. Er ist motiviert von dem anhaltenden Gefühl der Orientierungslosigkeit von einem Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung und der Versuch, in und um die IL eine Debatte zu befördern, um auf diesen Zustand zu reagieren. Dabei soll es darum gehen, zu skizzieren, warum die zunehmenden Klimafolgekrisen ein Arbeitsfeld für die IL darstellen sollten und wie eine strategische Linie darin aussehen könnte.

Long story short - ich vertrete die These, dass die IL eine Praxis entwickeln sollte, die die kommenden Klimafolgekrisen zum Ausgang nimmt. Ich bin nicht der erste, der auf diese Idee kommt, glaube aber, dass es neben der politischen Notwendigkeit eine große Schnittmenge zwischen der in diesem Feld notwendigen Strategie und Praxis und der politischen Bestimmung der IL gibt.

Das Offensichtliche zuerst

Über das aktuelle Stadium der Klimakrise und die damit verwobenen multiplen Krisen der Gegenwart wurde und wird viel geschrieben. Das auszuführen soll nicht Zweck des Textes sein, aber ich möchte kurz umreißen, welche Annahmen ihm zugrunde liegen.

In den aktuellen Zeiten der beschleunigten Krisen ist Destabilisierung Programm. Die zeitliche und räumliche Kostenverschiebung, auf der die kapitalistische Akkumulation basiert und ihre relative Stabilität fußt, bekommt immer mehr Risse. Die Zukunft wird Gegenwart, Andernorts ist hier. Mit den Worten einer Genossin von der IL-Strategiekonferenz 2016: Deutschland ist einmal mehr Teil der Welt geworden. Extremer Starkregen, Waldbrände, Hitze und so weiter. All das ist schon da und wird noch zunehmen, während das Leben in vielen Teilen der Welt immer unmöglicher wird. Auch der Rest des globalen Nordens bekommt die Krisen zu spüren. Grob lassen sich (v.a für den globalen Norden) länderübergreifend zwei Projekte skizzieren, die sich implizit zur Lösung der Krisen herausgebildet haben. Da wären zum einen die verschiedenen Spielarten eines »grünen Kapitalismus« – also Ausformungen einer von den Herrschenden postulierten Krisenlösungsstrategie. In den USA ist es »Bidenomics«, hier vor Ort wahrscheinlich am ehesten die Ampel. Sie zeichnen sich aus durch eine zumindest teilweise Anerkennung der Klimakrise und den Versuch, diese mittels eines neuen Akkumulationsregimes zu lösen. Eine grüne Festung soll entstehen - nach innen (zumindest für Mittel- und Oberklasse) lebenswert, nach außen militärisch abgesichert gegen die Verwerfungen und das Elend im Rest der Welt, mit massenhaft Toten an den Außengrenzen als Folge. In Abgrenzung dazu hat sich eine rechte Allianz herausgebildet, in die auch Teile der Faschist*innen eingebunden sind. Sie setzt weiterhin auf die fossile Produktion und sucht den kleiner werdenden Kuchen an Privilegien des globalen Nordens mit aller Gewalt zu verteidigen, ob nun gegen Queers oder Geflüchtete. Sie fußt ihr Zukunftsversprechen auf der vollständigen Ausblendung der Klimakrise.

Welches dieser Projekte sich wo mittelfristig durchsetzt bleibt offen. Sie konkurrieren inner- und zwischenstaatlich miteinander vor dem Hintergrund einer entstehenden multipolaren Weltordnung, in der das internationale Machtgeflecht offensiv und teils kriegerisch neu ausgehandelt wird. Dies führt dazu, dass, platt gesagt, auch mal etwas zu Ungunsten kurzfristiger Profite oder dem Willen der Bevölkerung durchgeboxt wird, um die eigene Machtposition zu stärken. Das ist also...

Zum Krieg in Israel/Palästina

So, 10/22/2023 - 22:50

Die Interventionistische Linke Berlin positioniert sich in diesem Beitrag zu den Angriffen der Hamas am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden Bombardements in Gaza.

Wir gedenken der am 7. Oktober 2023 durch die Hamas und mit ihr verbündete Gruppen wie dem Islamischen Jihad und der PFLP ermordeten, verletzten und entführten Menschen. Die Massaker trafen komplette jüdische Familien, jüdische Israelis auf dem Weg zur Arbeit und bei einem Festival, Kleinkinder, Menschen, die sich schützend vor ihre Kibbuzim oder Familien stellten, Aktivist*innen, die sich jahrelang für Frieden und gegen die Besatzung einsetzten, arabisch-israelische Sanitäter*innen, nepalesische Austauschstudent*innen und Arbeitsmigrant*innen aus Thailand. Die Angreifer mordeten, verstümmelten, folterten und vergewaltigten. Etwa 200 Personen sind immer noch in Geiselhaft. Es war ein antisemitischer Angriff, dessen erklärtes Ziel es war, jüdisches Leben als solches auszulöschen. Für diese Taten gibt es keine Rechtfertigung. Sie stehen dem, was wir wollen und wofür wir kämpfen, diametral entgegen. Wer das als Teil des legitimen Widerstands gegen eine unzweifelhaft bestehende israelische Unterdrückungs- und Besatzungspolitik rechtfertigt, ist für uns kein Partner im Kampf für eine freie und solidarische Gesellschaft.

Wir gedenken der seit dem 07. Oktober 2023 durch israelische Luft- und Artillerieangriffe und ihre Folgen in Gaza getöteten Menschen. Hier wurden ganze palästinensische Familien ausgelöscht und unter anderem Flüchtende, Verschütteten zur Hilfe Kommende, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, Journalist*innen, Ärzt*innen, Fahrer*innen von Krankenwagen und in UN-Institutionen und Schulen Schutzsuchende getötet. Wer mit Bomben und Raketen aus der Luft oder aus Artilleriegeschützen ein so eng bewohntes Gebiet wie Gaza unter Feuer nimmt, nimmt diese Menschen explizit ins Ziel, trifft weitgehend unterschiedslos alle dort Lebenden. Bei allem nachvollziehbaren Wunsch, die Hamas und ihre direkten Verbündeten zu bekämpfen, kann es auch für diese Verbrechen keine Rechtfertigung geben, ebenso wie es keine Legitimation dafür geben kann, eine komplette Bevölkerung abzuriegeln und ihnen zeitweise oder ganz Wasser, Nahrung und Strom zu entziehen. Die Rhetorik der israelischen Regierung gegenüber der Bevölkerung in Gaza ist menschenverachtend, ähnlich wie die Ignoranz gegenüber dem Leid in Gaza in Teilen der deutschen Debatten, auch bei manchen Linken. Auch das steht dem, was wir wollen und wofür wir kämpfen, diametral entgegen.

Weder der Angriff und die Massaker der Hamas und ihrer Verbündeten noch die Abriegelung Gazas und die militärischen Angriffe dort geschehen außerhalb des Kontexts eines jahrzehntelangen Konflikts. Zu diesem Kontext gehören die andauernde Belagerung des Gazastreifens, die systematische Diskriminierung von Palästinenser*innen und die völkerrechtswidrige Besatzung, ebenso wie die beständige Bedrohung jüdischen Lebens durch Raketen, Messerattentate und andere Angriffe. Dieser Kontext rechtfertigt jedoch nichts von den oben beschriebenen Verbrechen in Israel und Gaza. Das eine kann das andere nicht rechtfertigen und umgekehrt. Und für uns ist ebenso klar: Es dürfen keine Unterschiede in der Wertigkeit von Menschenleben gemacht werden. Wer den Angriff der Hamas feiert, unterscheidet. Wer es legitim findet, zwei Millionen Menschen kollektiv zu bestrafen und tausende Tote durch Luftschläge in Gaza achselzuckend hinnimmt, unterscheidet. Wer keine Empathie für das Leid der anderen Menschen aufbringen kann, unterscheidet. Es muss unsere Aufgabe sein, diesen Rechtfertigungen und dieser Empathielosigkeit entgegenzustehen und dafür zu sorgen, dass ein Ereignis...

You don‘t need no weatherman to know which way the wind blows

Sa, 08/12/2023 - 13:00

Ein Plädoyer die aktuellen Suchbewegungen der Klimabewegung mit Militanz zu beantowrten. Militanz, die einen Zusammenhang zwischen Ziel und Form des Handelns deutlich werden lässt.

„Der reißende Strom wird gewalttätig genannt / Aber das Flussbett, das ihn einengt / Nennt keiner gewalttätig.“ – Bertolt Brecht

Die Klimagerechtigkeitsbewegung im globalen Norden ist lange nicht mehr marginal. Dennoch scheint sich ein glaubwürdiger Pfad zu einer annähernden Eingrenzung der Klimakrise immer weiter zu entfernen. Irreversible Klimakipppunkte wurden erreicht und der Klimakollaps ist für viele Menschen im globalen Süden schon längst bittere Realität. In Pakistan verloren 2022 über zehn Millionen Menschen ihre Häuser durch Fluten; die WHO stellte letztes Jahr so viele Tote durch die Klimakrise fest wie nie zuvor. Um die unvorhersehbaren Konsequenzen der Krise auch nur annähernd einzudämmen, müssten Staaten im globalen Norden jegliche Infrastruktur drastisch und schnellstmöglich umbauen. Stattdessen schrieben wir in 2022 das Jahr mit den weltweit meisten klimaschädlichen Emissionen seit Beginn der Aufzeichnungen. Wie positioniert sich die Klimagerechtigkeitsbewegung gegenüber dieser immer unübersehbareren Radikalisierung der Verhältnisse? In Deutschland verleihen viele Klimaaktivist*innen ihrer Hoffnung auf die Transformationsfähigkeit staatlicher Strukturen Ausdruck. Ob Baggerbesetzungen in RWEs Kohlegruben, eine Demonstration vor dem Reichstag, konsequenzenlose Gespräche mit Parlamentarier*innen oder die hundertste Petition für Klimaschutz auf Campact – was als buntes Sammelsurium wohlbekannter Aktionsformen der Klimagerechtigkeitsbewegung scheint, teilt eine entscheidende Gemeinsamkeit: die, wenn auch auf verschiedene Weise erfolgende, Bezugnahme auf den Staat. Dieser bisherige Fokus auf den Staat ist insoweit verständlich, als dass unter den existierenden nationalstaatlichen Bedingungen letztlich nur mithilfe der bestehenden staatlichen Strukturen die so dringenden ökologischen Sofortmaßnahmen getroffen werden können. Gleichzeitig ist dieser Fokus jedoch äußerst paradox, da kapitalistisch organisierte Staaten ihrer Struktur nach unfähig sind, klimagerechte Auswege aus der Krise zu schaffen. Der Staat, in dem wir leben, ist in Abhängigkeit und als Konsequenz aus der kapitalistischen Produktionsweise entstanden. Staat und Kapital gehen seit der Entstehung moderner Nationalstaaten Hand in Hand. Daraus folgt, dass staatliche Strukturen – wenn auch sie mitunter sozialdemokratische Zugeständnisse machen mögen – Kapitalinteressen über soziale Interessen wie den Schutz unserer Lebensgrundlagen priorisieren. Diese staatliche Interessensgewichtung muss im Kampf gegen die Klimakrise zentral sein, denn sie sichert das für die Klimakrise ursächliche System: das System von ausbeuterisch hergestelltem Reichtum für Wenige zum Leid der Vielen. Dies sieht man heutzutage lupenartig am Vergleich der Emissionen von Imperialmächten und kolonisierten Ländern. Beispielsweise emittierte Deutschland 2021 über 762 Millionen Tonnen Treibhausgase, während Äthiopien 19 Millionen Tonnen emittierte, obwohl dort 40 Millionen mehr Menschen als in Deutschland leben. Allein die neue EACO-Pipeline in Nordostafrika ermöglicht zwanzig Mal so hohen Emissionausstoß pro Jahr wie die Staaten Tansania und Uganda zusammen. Profitieren werden davon Akteure aus dem globalen Norden. Auch der Vergleich von Emissionen auf individueller Ebene wirft Licht auf die Verstrickung von Krise und Eigentum: Laut einer Studie von Oxfam wird das reichste Prozent der

Weltbevölkerung bis 2030 für 16 Prozent der globalen Gesamtemissionen verantwortlich sein. Ganz alltäglich erleben wir den Zusammenhang von Krise und Eigentum, wo Grundbedürfnisse wie Strom und Wohnen immer unbezahlbarer werden und die klimagerechte Umstrukturierung dieser keine Option scheint. Nicht nur...

Über postmoderne Gewissheiten: Eine Replik auf Barbara Imholz‘ Text »Kapitalkonformes Ich«

Di, 08/08/2023 - 10:10

Ist die Diagnose einer umfassenden neoliberalen Subjektivierung, also auch einer Neoliberalisierung unseres politischen Selbstverständnisses, zutreffend? Der Autor Angel meldet mit diesem Debattenbeitrag seine Zweifel an. Zugleich, so betont der Genosse, spricht die Autorin in dem Ursprungstext drängende Fragen an, denen sich die radikale Linke widmen müsse.

»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.« (Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, 1944)

Die Broschüre »Die IL läuft Gefahr, Geschichte worden zu sein« dokumentiert eine Tagung zur Krise der radikalen Linken. Auf einen dieser Texte soll an dieser Stelle genauer eingegangen werden: In ihrem Text „Kapitalkonformes Ich“ stellt Barbara Imholz der radikalen Linken in Deutschland ein vernichtendes Zeugnis aus. Streitbar daran sind vor allem die Diagnosen über die Neoliberalisierung linksradikaler Subjekte und die Rolle der Postmoderne. Um zu verstehen, welche Auswirkungen das auf eine linke Gesellschaftskritik hat, lohnt es sich, die Vorwürfe von Imholz gegen »die« Postmoderne näher zu betrachten und die Rückschlüsse hinsichtlich linker Praxis zu ergründen.
Vorweg sei gesagt, dass der Text von Barbara Imholz ohne Zweifel eine lesenswerte Beschreibung davon liefert, wie Elemente kapitalistischer Herrschaft die Spätmoderne und ihre Subjekte bis ins Intimste durchziehen. Die tiefgreifenden Veränderungen der Beziehung des Subjekts zu sich selbst und zu anderen, die Verwertungslogik, die gleichsam zur zweiten Natur wird – all das sind Symptome eines Kapitalismus, der es geschafft hat, Selfcare und Selbstverwirklichung als Vorposten in der Psyche des spätmodernen Individuums zu verankern. Jedoch scheitert der Text daran, das grundlegend Neue daran offenzulegen. Daneben produziert er ein theoretisches Missverständnis zur Postmoderne und übertragt so die Subjektivierung der Spätmoderne direkt auf die Organisierungspraxis der radikalen Linken. Doch der Reihe nach:

Ein postmodernes Missverständnis

Imholz will mit dem »Begriff der Postmoderne (…) Merkmale seit den 1980er Jahren beschreiben«, verwendet ihn jedoch zugleich für eine Theorieschule, die auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard zurückgeht. Eben dieser Denkschule unterstellt sie, die totale Beliebigkeit und die Abwendung von Wahrheit zu propagieren: Die Postmoderne halte alle Werte für austauschbar, alles sei gleichgültig und somit auch politisch nicht entscheidbar. Dieser Vorwurf gegenüber „der“ Postmoderne geht leider am Kern von deren Anliegen vorbei. Freilich, Lyotard ist viel zu sperrig, um als Bezugspunkt für eine linke Praxis zu taugen. Das, was sich seit seiner Zeit als postmodernes (bzw.: poststrukturalistisches) Denken entwickelte, bedeutet aber nicht Willkür oder eine Gleichwertigkeit aller Ideen nebeneinander, sondern oftmals Konfrontation der Gegensätze ohne Versöhnung. So viel sei gesagt: Auch mit ‚postmodernem‘ Denken ist Gesellschaftskritik möglich. Am Punkt der Wahrheit bzw. Vernunft lässt sich das verdeutlichen.

Vernunft als Instrument der Herrschaft

Imholz macht eine »Chancenlosigkeit aufgeklärter Vernunft« in der Postmoderne aus. Tatsächlich wollen poststrukturalistische Ansätze – wie sie übrigens auch der von Imholz zitierte Michel Foucault verfolgt hat – nicht zwingend mit den kritischen Denktraditionen der Aufklärung brechen, sondern diese vielmehr radikalisieren: Das heißt, dass sie angeblich allgemeingültigen, selbsterklärenden und somit »vernünftigen« Wahrheiten kritisch gegenüberstehen. Sie folgen damit der Einsicht, dass die Vernunft bzw. Rationalität in der Geschichte der...

Zivilgesellschaft und Solidarität in der Türkei nach den Erdbeben

Mo, 08/07/2023 - 13:06

Während der türkische Staat mit neoliberalem Urbanismus und autoritärer Politik auf die verheerenden Erdbeben in der Südtürkei und in Syrien im Februar 2023 reagiert, bemühen sich feministische und zivilgesellschaftliche Gruppen um eine solidarische Katastrophenhilfe. Ülker Sözen beschreibt in ihrem Beitrag die zivilgesellschaftliche Bewältigung der Krise mehrere Monate nach den Beben.

Seit den verheerenden Erdbeben in Maraş und Hatay sind nun mehrere Monate vergangen. Diese Erdbeben haben weite Gebiete im Süden der Türkei mit einer Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen betroffen. Die Ausmaße der Zerstörung sind mittlerweile deutlich erkennbar. Offiziellen Angaben zufolge sind über 50.000 Menschen ums Leben gekommen, 18.000 Gebäude eingestürzt, und fast 3 Millionen Menschen haben das Katastrophengebiet verlassen. Abgesehen von den menschlichen Verlusten und der Zerstörung sozialer Infrastruktur, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Erdbeben laut Schätzungen der UNO enorm. Die bereits durch die anhaltende Währungskrise geschwächte türkische Wirtschaft wird voraussichtlich einen Schaden von über 100 Milliarden Dollar erleiden.

Der türkische Katastrophen- und Notfallmanagement-Vorsitz (AFAD) hat kürzlich bekannt gegeben, dass mehr als 2 Millionen Menschen in vorläufigen Siedlungen im Katastrophengebiet leben. Lediglich 40.000 Menschen haben Container zur Verfügung, während der Rest in Zelten unterkommen muss. Diese Zelte bieten keinen ausreichenden Schutz vor Regen und Überschwemmungen. Während heftiger Regenfälle im März kosteten diese Bedingungen 18 Menschen das Leben. Die Bewohner*innen der Zeltlager und die vor Ort tätigen Aktivist*innen berichten von infrastrukturellen Problemen sowie von einem Mangel an lebenswichtigen Gütern, wie sauberem Wasser, Nahrung und Kleidung. Zusätzlich sind Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, LGBTIQ+ und andere benachteiligte soziale Gruppen, wie syrische Migrant*innen und ethnische Minderheiten, besorgniserregend. Mit der Zeit rücken die Erdbeben zunehmend in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, was zu einem Rückgang von Spenden und zivilgesellschaftlichen Solidaritätsaktionen führt.

Ursachen der Katastrophe: Neoliberaler Urbanismus und Autoritarismus

Das verheerende Ausmaß der Zerstörung zeigt den politischen Charakter dieser Katastrophe und ist eine direkte Konsequenz der unzureichenden Vorbereitung auf Notfallsituationen sowie der weit verbreiteten Korruption unter der Regierung der AKP. Die Abwesenheit staatlicher Unterstützung und das Versagen öffentlicher Behörden nach den Erdbeben werden das ohnehin schon bestehende Misstrauen der türkischen Gesellschaft gegenüber dem Staat weiter vertiefen.

Ein weiterer maßgeblicher Faktor für die Verwüstung und den Verlust zahlreicher Menschenleben ist die unkontrollierte neoliberale Stadtentwicklungspolitik, die von der AKP als zentrales Mittel zur Profitgenerierung und als Instrument ihrer Klientelpolitik eingesetzt wurde. Diese Politik beinhaltet die Enteignung risikoreicher Gebiete, darunter landwirtschaftliche Flächen und Flussufer, sowie den Bau von Wohnhochhäusern, die sich mittlere und einkommensschwache Bevölkerungsgruppen kaum leisten können. Diese Vorgehensweise verstärkt die ohnehin hohe Verschuldung der türkischen Gesellschaft. Kurz nach den Erdbeben verkündete die Regierung ihre Lösung für die Wohnungsproblematik: Sie setzt auf die Fortführung des Verschuldungsregimes und die Urbanisierung neuer Gebiete innerhalb des kommenden Jahres, die - wenig überraschend - willkürlich ausgewählt wurden und den wirtschaftlichen Interessen der AKP-Elite dienen.

Die TMMOB (Union der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern), der Dachverband von Fachleuten und Expert*innen, die eine verfassungsmäßige öffentliche Rolle bei der Überwachung von Bau- und Stadtplanungspraktiken innehat, äußert ihre Besorgnis über den knappen Zeitrahmen für den Wiederaufbau in den Katastrophengebieten. Sie kritisiert die intransparente Stadtplanung von...

Das schwarze Loch der Solidarität

So, 08/06/2023 - 09:24

Die Internationalismus AG der Interventionistischen Linken hat in der ak – analyse & kritik und auch hier auf dem Debattenblog Thesen für eine linke Antikriegspraxis formuliert – an ihrer Argumentation ist fast alles falsch. so Christoph Kleine von der Ortsgruppe Hamburg. Er hat seinen Widerspruch in diesem Artikel formuliert.

Wir haben diesen Artikel für den Debattenblog gekürzt. Die vollständige Version erschien in der ak und ist hier auch online abrufbar.

Das »schwarze Loch« der Logik des Krieges, das am Anfang des Artikels »Der Krieg, die Linke und wir« als Bild bemüht wird, scheint bei den Verfasser*innen nicht nur die analytische Klarheit, sondern vor allem die Empathie mit den Angegriffenen der russischen Aggression und jegliche internationale Solidarität verschluckt zu haben.

Das Ärgerlichste kommt gleich am Anfang. Anstatt die furchtbare Lage und das politische Dilemma für alle emanzipatorischen Linken in der Ukraine anzuerkennen, dass angesichts der Invasion, der Massaker und der Brutalität des russischen Besatzungsregimes der Kampf gegen den Nationalismus und den Neoliberalismus nicht mit gleicher Kraft weitergeführt werden kann, weil die gemeinsame Verteidigung der Ukraine Priorität haben muss, wird den Genoss*innen vom deutschen Sofa aus erklärt, sie würden »den Klassenkampf in Form der Nation aufheben«, und als Gipfel der Anmaßung dann noch, sie würden damit »andere Kämpfe um Befreiung (verunmöglichen)«.

Auch die deutliche Positionierung russischer Kriegsgegner*innen, die den vollständigen Rückzug der russischen Invasionstruppen aus der Ukraine fordern und einem großen Teil der Linken im Westen vorwerfen, »das Wesen dieses Krieges« und die inneren Motive des russischen Imperialismus nicht zu verstehen, wird lapidar vom Tisch gewischt: Das sei zwar nachvollziehbar, aber »unser Einsatz hier in Deutschland muss ein anderer sein.«

Aber warum sind »wir« stärker zur Suche nach Alternativen aufgerufen als die Hauptbetroffenen, die entweder, wie die ukrainischen Genoss*innen, in dem überfallenen Land leben oder aus ihm fliehen mussten oder, wie die russischen Genoss*innen, in akuter Gefahr stehen, als Kanonenfutter für einen ungerechten Krieg an die Front geschickt zu werden? Ganz nebenbei wird mit dem Begriff des »langandauernden Abnutzungs- und Stellungskriegs« noch die Kreml-Erzählung eingewoben, dass der Widerstand der Ukraine ohnehin aussichtslos sei. Dabei ist auch der Vorschlag von (inhaltlich unbestimmten) Verhandlungen nur deshalb möglich, weil es durch den militärischen Widerstand überhaupt noch eine souveräne Ukraine gibt.

Linkes Okay für Besatzung?

Die politische Perspektive für die Ukraine lautet für diese Form des »Antimilitarismus«: sofortiger Waffenstillstand und »Einfrieren«, was angesichts des Verzichts auf die Forderung nach dem Rückzug der russischen Armee nichts anderes heißt als: Hinnahme der russischen Besatzung von etwa 20 Prozent der Ukraine, inklusive der Unterdrückung und der Massaker, die in den besetzten und annektierten Gebieten geschehen.

Dieser moralische Pazifismus unter der Parole »Hauptsache das Sterben hört auf« ist – gerade aus dem Munde radikaler Linker – ebenso überraschend wie unglaubwürdig. Die Geschichte der Linken ist voll von aussichtslosen Kämpfen, deren Andenken wir dennoch hochhalten. Vom antiken Spartakus über die Bauernkriege, die Pariser Kommune bis zum Spanischen Bürgerkrieg, um nur einige Beispiele zu nennen. Der linksradikale Einsatz lautete stets: »Rebellion und Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung sind gerechtfertigt.« Natürlich...

Seit' an Seit': Busfahrer*innen und Klimabewegung

Mo, 07/10/2023 - 16:51

Das Antikapitalistische Klimatreffen München will die Parole »Klimakampf heißt Klassenkampf« wahr werden lassen. Sie berichten von ihrem Schulterschluss mit den Beschäftigten des öffentlichen Nahverkerhs in München im Zuge der Tarifauseinandersetzungen Anfang des Jahres. Eins wird deutlich: Beziehungspflege, Verlässlichkeit und Mut sind hierbei notwendig gewesen.

Anfang dieses Jahres haben sich die Klimabewegung und Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs in ganz Deutschland zusammengetan, um Seite an Seite für Klimaschutz und bessere Löhne zu kämpfen. Die Highlights in München waren einerseits unsere Blockade von Streikbrecher*innen zur Unterstützung des Arbeitskampfes während der Tarifverhandlungen im Nahverkehr. Und auf der anderen Seite ist die sehr hohe Beteiligung von Beschäftigten beim globalen Klimastreik am 3. März. Wir vom Offenen Antikapitalistischen Klimatreffen München wollen erklären, warum der Zusammenschluss von Klimaschutz und Klassenkampf eine so entscheidende Rolle spielt, und von unseren Erfahrungen bei der konkreten Arbeit dazu berichten.

Warum gehören die Kämpfe zusammen?

In den letzten Jahren ist ein Slogan immer wieder auf Klimademos und Veranstaltungen aufgetaucht: »Klimakampf ist Klassenkampf« Denn wenige Superreiche tragen die Hauptverantwortung an der sich verschlimmernden Klimakrise und profitieren von dieser, während der Rest der Bevölkerung (in unterschiedlichem Ausmaß) unter den jetzigen und zukünftigen Folgen leidet. Der Staat unterstützt dieses Gefälle sogar: so ist es im Kapitalismus völlig normal, für Autokonzerne Autobahnen durch Wälder zu bauen, während die Beschäftigten im ÖPNV schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne dulden sollen. Der ÖPNV ist im Gegensatz zum Individualverkehr wesentlich klimafreundlicher, doch als »bloße« Daseinsvorsorge ermöglicht er eben nicht die hohen Profite und das Wachstum, das Autokonzerne durch Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzielen. Wir wollen dieses System, das einigen wenigen die Macht über die Produktion und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gibt, überwinden. Wir wollen ein Klassenbewusstsein schaffen und gemeinsam mit Beschäftigten eine Gegenmacht zur Ausbeutung und Klimazerstörung aufbauen.

Im ÖPNV zeigt sich derzeit, wie das Scheitern der Verkehrswende nicht nur mit der einseitigen Unterstützung der Autokonzerne, sondern auch mit der Ausbeutung von Beschäftigten zusammenhängt: Seit 1998 müssen 18% weniger Beschäftigte 24% mehr Fahrgäste transportieren. Der wachsende Druck führt immer häufiger zu Erkrankungen und Personalausfällen. Durch die schlechten Löhne kommen kaum neue Fachkräfte, sodass es bereits jetzt schwierig ist, die mangelhafte Personalanzahl im ÖPNV zu halten. Von einem Ausbau kann gar nicht die Rede sein. Und so ist es nicht nur für die Beschäftigten selbst, sondern auch für die Klimagerechtigkeit von großer Bedeutung, dass die Beschäftigten sich gute Arbeitsbedingungen und Löhne mithilfe von Streiks erkämpfen. Als Klimaaktivist*innen können wir diese Kämpfe unterstützen und politisieren.

Wie sah unsere konkrete Arbeit aus?

Um zu den laufenden Tarifverhandlungen im Nahverkehr mit den Beschäftigten in Kontakt zu kommen, sind wir deshalb mehrmals wöchentlich zu Busbahnhöfen, Brotzeithäuschen und Haltestellen gegangen. Wir sind mit den Fahrer*innen ins Gespräch gekommen und haben sie mit Flyern zu einem gemeinsamen Brunch und einer Podiumsdiskussion eingeladen. Mit Flyern, die sich an die Fahrgäste richteten, haben wir diese zur Solidarität mit potenziellen Streiks aufgerufen und mit Plakaten im öffentlichen Raum die Verbindung von Arbeitskampf und Klimaschutz sichtbar gemacht. Tatsächlich wurden entdeckte Plakate von Beschäftigten in internen WhatsApp-Gruppen immer wieder geteilt. Gleichzeitig...

Seit an Seit: Busfahrer*innen und Klimabewegung

Mi, 06/21/2023 - 17:02

Das Antikapitalistische Klimatreffen München will die Parole "Klimakampf heißt Klassenkampf" wahr werden lassen. Sie berichten von ihrem Schulterschluss mit den Beschäftigten des öffentlichen Nahverkerhs in München im Zuge der Tarifauseinandersetzungen Anfang des Jahres. Eins wird deutlich: Beziehungspflege, Verlässlichkeit und Mut sind hierbei notwendig gewesen.

Anfang dieses Jahres haben sich die Klimabewegung und Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs in ganz Deutschland zusammengetan, um Seite an Seite für Klimaschutz und bessere Löhne zu kämpfen. Die Highlights in München waren einerseits unsere Blockade von Streikbrecher*innen zur Unterstützung des Arbeitskampfes während der Tarifverhandlungen im Nahverkehr. Und auf der anderen Seite ist die sehr hohe Beteiligung von Beschäftigten beim globalen Klimastreik am 3. März. Wir vom Offenen Antikapitalistischen Klimatreffen München wollen erklären, warum der Zusammenschluss von Klimaschutz und Klassenkampf eine so entscheidende Rolle spielt, und von unseren Erfahrungen bei der konkreten Arbeit dazu berichten.

Warum gehören die Kämpfe zusammen?

In den letzten Jahren ist ein Slogan immer wieder auf Klimademos und Veranstaltungen aufgetaucht: "Klimakampf ist Klassenkampf" Denn wenige Superreiche tragen die Hauptverantwortung an der sich verschlimmernden Klimakrise und profitieren von dieser, während der Rest der Bevölkerung (in unterschiedlichem Ausmaß) unter den jetzigen und zukünftigen Folgen leidet. Der Staat unterstützt dieses Gefälle sogar: so ist es im Kapitalismus völlig normal, für Autokonzerne Autobahnen durch Wälder zu bauen, während die Beschäftigten im ÖPNV schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne dulden sollen. Der ÖPNV ist im Gegensatz zum Individualverkehr wesentlich klimafreundlicher, doch als "bloße" Daseinsvorsorge ermöglicht er eben nicht die hohen Profite und das Wachstum, das Autokonzerne durch Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzielen. Wir wollen dieses System, das einigen wenigen die Macht über die Produktion und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gibt, überwinden. Wir wollen ein Klassenbewusstsein schaffen und gemeinsam mit Beschäftigten eine Gegenmacht zur Ausbeutung und Klimazerstörung aufbauen.

Im ÖPNV zeigt sich derzeit, wie das Scheitern der Verkehrswende nicht nur mit der einseitigen Unterstützung der Autokonzerne, sondern auch mit der Ausbeutung von Beschäftigten zusammenhängt: Seit 1998 müssen 18% weniger Beschäftigte 24% mehr Fahrgäste transportieren. Der wachsende Druck führt immer häufiger zu Erkrankungen und Personalausfällen. Durch die schlechten Löhne kommen kaum neue Fachkräfte, sodass es bereits jetzt schwierig ist, die mangelhafte Personalanzahl im ÖPNV zu halten. Von einem Ausbau kann gar nicht die Rede sein. Und so ist es nicht nur für die Beschäftigten selbst, sondern auch für die Klimagerechtigkeit von großer Bedeutung, dass die Beschäftigten sich gute Arbeitsbedingungen und Löhne mithilfe von Streiks erkämpfen. Als Klimaaktivist*innen können wir diese Kämpfe unterstützen und politisieren.

Wie sah unsere konkrete Arbeit aus?

Um zu den laufenden Tarifverhandlungen im Nahverkehr mit den Beschäftigten in Kontakt zu kommen, sind wir deshalb mehrmals wöchentlich zu Busbahnhöfen, Brotzeithäuschen und Haltestellen gegangen. Wir sind mit den Fahrer*innen ins Gespräch gekommen und haben sie mit Flyern zu einem gemeinsamen Brunch und einer Podiumsdiskussion eingeladen. Mit Flyern, die sich an die Fahrgäste richteten, haben wir diese zur Solidarität mit potenziellen Streiks aufgerufen und mit Plakaten im öffentlichen Raum die Verbindung von Arbeitskampf und Klimaschutz sichtbar gemacht. Tatsächlich wurden entdeckte Plakate von Beschäftigten in internen WhatsApp-Gruppen immer wieder geteilt. Gleichzeitig...

Gemeinsam gegen Staat und Repression

So, 06/18/2023 - 15:18

Die Aktionen und Proteste rund um die Urteilsverkündung im so genannten Antifa-Ost-Verfahren treten abermals Debatten rund um das Ausmaß polizeilicher und staatlicher Repression los. Darin die Visionen einer befreiten Gesellschaft zu markieren und vermittelbar zu machen, sollte nach Ansicht der Autor*innen zentral gesetzt werden.

Was ist passiert?

Wir haben über mehrere Tage erlebt, dass die Behörden versucht haben, jede politische Meinungsäußerung auf der Straße rabiat zu verhindern. Angefangen mit der Demo in Leipzig am Tag der Urteilsverkündung, die am Platz der Auftaktkundgebung gekesselt und zerschlagen wurde. Weiter mit der Repression gegen die Demo »Tag der Jugend« am Weltkindertag, den 1. Juni 2023. Ebenso wurden beim Massencornern am Freitag, den 2. Juni 2023, Genoss*innen verhaftet. Samstag, am 3. Juni 2023, dann der 11-Stunden-Kessel, die langandauernde Schikane und eine vorbereitete Eskalation: Minderjährige Kinder wurden aus dem Kessel nicht zu ihren Eltern gelassen; Menschen, die medizinische Versorgung benötigten, mussten von Demosanitäter*innen im Kessel behandelt werden; der Zugang zu sanitären Anlagen wurde in Einzelfällen gewährt, jedoch war unklar, ob Menschen dafür direkt in die Gesa müssen. Hunderte Handys wurden eingesackt und Menschen, bei denen Wechselklamotten vermutet wurden, wurden aufgrund dessen in die Gesa gebracht, anstatt aus dem Kessel entlassen zu werden. Tags drauf ein weiterer Kessel und die Personalienfeststellung für den Gesa-Support und das Demoverbot für die angemeldete Versammlung gegen die Polizeigewalt der nächsten Tage.

Was sticht heraus?

Dass der Staat nur selten eine Gelegenheit auslässt, Linke zu drangsalieren, überrascht uns nicht. Jedoch scheint das Vorgehen der Cops von langer Hand geplant worden zu sein. So wurde nicht nur in Leipzig die Demo am 4. Juni 2023 für Solidarität mit den Verurteilten von den Cops attackiert, auch in anderen Städten reagierten sie ähnlich. In Bremen beispielsweise sollte die Demo auf keinen Fall laufen. Wir betrachten das Agieren der Behörden auf der Straße als Ausläufer des Prozesses. Auch im Gerichtssaal sollte Stärke demonstriert und die antifaschistische Linke ruhiggestellt werden. Ebenso draußen. Und wir sehen, dass sich so viele Menschen bereits durch den aufgefahrenen Polizeiapparat aus Angst vor Polizeigewalt und Repression gar nicht erst auf die angemeldete Demonstration am Samstag getraut haben, geschweige denn eine Möglichkeit des Ausdrucks über den Gerichtsprozess und das Urteil finden konnten. Und die am Samstag, den 03.06. eingesetzte Repression wirkt, denn sie wird Menschen auch von der Teilnahme an zukünftigen Demonstrationen und Aktionen, die von einer erhöhten Repression betroffen sein mögen, abhalten.

Lasst uns dabei aber nicht vergessen: Trotz der Repressionsszenarien im Vorfeld, trotz der Größe des aufgefahrenen Polizeitaufgebots, trotz der Befürchtung, dass sich das »nicht lohnt«, sind so viele Menschen am Samstag auf die Straße gegangen, um ihrer Wut über das Urteil und über die Demoverbote Ausdruck zu verleihen. Und so viele der Eingekesselten sind auch am Montag wieder auf die Straße gegangen, um wiederum ihrer Wut gegenüber der erlebten Repression und Gewalt Ausdruck zu verleihen. Und so viele Genoss*innen haben im Hintergrund und im Nachgang Unterstützungsarbeit für die Eingekesselten und Inhaftierten geleistet und tun es noch. Lasst uns das nicht vergessen, denn das zeigt unsere Kraft und unser Zusammenhalten,...

Ist Rojava eine sozialistische Utopie?

Mo, 05/01/2023 - 11:32

Für die einen ist Rojava eine gelebte sozialistische Utopie, von anderen wird es als kurdisches Nationalprojekt abgetan. Dass diese Widersprüche Teil des revolutionären Prozesses sind und in die Geschichte der Selbstverwaltung Rojavas eingeschrieben sind, argumentiert Matt Broomfield in seinem Beitrag, der zuerst bei UnHeard erschienen ist.

Um einen Streit unter westlichen Linken zu entfachen, muss man nur das Wort »Rojava« erwähnen. Seit seiner Gründung vor einem Jahrzehnt hat das kurdisch geführte politische Projekt die Linke in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite wird die Region von ihren Befürworter*innen als egalitäre, ökologische und direktdemokratische Utopie gepriesen; auf der anderen Seite wird sie von ihren Gegner*innen als ethnisch segregierter, vom Öl abhängiger Kleinstaat abgetan, der nur dem kurdischen Nationalismus dient. Welche Seite liegt richtig?

Von 2018 bis 2020 habe ich drei Jahre lang in Rojava gelebt, der Region der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Dort habe ich fast jeden Tag eine andere Ansicht zu den Erfolgen der Revolution gehört. US-Militärs sahen die Selbstverwaltung als nützlichen Verbündeten gegen den IS und als Gegengewicht zum Einfluss des Iran. Kurd*innen, Frauen, christliche und jesidische Dorfbewohner*innen waren angesichts der ethnischen Säuberungen durch die Türkei und den IS pragmatisch dankbar dafür, dass Rojava die höchsten Standards in Bezug auf Menschenrechte und humanitäre Versorgung in ganz Syrien bietet.

Manche anarchistische Freiwillige verließen das Land jedoch enttäuscht, da ihre idealisierte Sicht auf die »Rojava-Revolution« mit der Realität der Massenarmut, des begrenzten politischen Engagements und eines immer stärker werdenden Sicherheitsapparats kollidierte. Viele andere blieben und akzeptierten die ideologischen »Widersprüche« als Teil des revolutionären Prozesses. In der Tat: In den Jahren seit 2013 ist klar geworden, dass die Revolution niemals hätte überleben können, wenn sie nicht eine Reihe von scheinbar widersprüchlichen Funktionen erfüllt hätte.

Aus den Bergen nach Rojava

Rojava erlangte Autonomie, nachdem sich die Kräfte des Regimes während des syrischen Aufstands 2011/12 aus dem kurdischen Norden des Landes zurückzogen. Infolgedessen konnten kurdische Kämpfer*innen, ihrem inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan treu ergeben, aus den Gebirgsregionen, in denen sie lange Zeit einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Türkei geführt hatten, nach Nordsyrien gelangen. Dort in den Bergen lebten die überzeugten Kader*innen ein notwendigerweise gemeinschaftliches und bescheidenes Leben. Kurd*innen, die Zeit »in den Bergen« verbracht haben, sprechen voller Nostalgie über die Genoss*innenschaft und die ganzheitliche Beziehung zur Natur, die sie dort erlebten. Doch diese politischen Aktivist*innen sahen sich nun nicht nur damit konfrontiert, den IS, den Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra und die türkische Armee abzuwehren, sondern standen auch vor dem Aufbau einer Gesellschaft, die Millionen Menschen versorgen muss.

Diese lebenslangen Parteigänger für die kurdische Sache erfuhren eine geradezu überwältigende Rechtfertigung ihres Kampfes. Eine Frau mittleren Alters erzählte mir mit leuchtenden Augen, dass sie ihr ganzes Leben dem Kampf gegen die Türkei geopfert hat – 38 der 40 Genoss*innen ihrer ersten Ausbildungsgruppe starben in diesem Kampf. Und dann entstand unverhofft in Syrien die Gelegenheit, einen Teil der kurdischen Heimat befreien zu können. Unter vier Augen sprechen die kurdischen Militanten jedoch oft über ihre Frustration mit der widerstrebenden lokalen Bevölkerung, die sich nicht sonderlich für die hochtrabenden...

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