Sammlung von Newsfeeds

Für ein Ende der Gewalt

Debattenblog - Mo, 11/27/2023 - 15:17

Das Ausmaß an Gewalt und militärischer Vergeltung, das sich mit und seit dem 7.Oktober in Israel und Palästina materialisiert, ist kaum zu begreifen. Ein Versuch der IL Frankfurt, sich nicht in den Abgrund der Entmenschlichung und Kriegslogik hineinziehen lassen, sondern eine politische Haltung zu entwickeln.

Am 7. Oktober verübten die Hamas und ihre Verbündeten mit ihrem Terrorüberfall auf Israel ein beispieloses antisemitisches Massaker. Mehr als 1.200 Menschen, überwiegend Jüd:innen, wurden brutal ermordet, viele Weitere verletzt, vergewaltigt, vertrieben und traumatisiert. Noch immer werden über 200 Geiseln im Gazastreifen festgehalten, ihre Situation ist unklar. Die israelische Regierung antwortete mit einer kompletten Abriegelung des Gazastreifens, inklusive lebensnotwendiger Güter wie Essen,sauberes Wasser, Medizin und Treibstoff für (Strom-)Generatoren, und startete umfassende Luft- und Artillerieangriffe. Seit dem 27. Oktober ist die israelische Armee in den Gazastreifen einmarschiert und hat ihn in Norden und Süden geteilt. 1,5 Millionen Palästinenser:innen wurden vertrieben, weit über 10.000 getötet und ermordet, Zehntausende verletzt oder unter Trümmern begraben.

Während wir täglich Berichte und Bilder dieser furchtbaren Eskalation sehen, nimmt die antisemitische Gewalt zu. Pro-palästinensische Demonstrationen werden polizeilich drangsaliert oder unterbunden. In den deutschen Feuilletons überschlagen sich vermeintliche Wahrheiten und Anschuldigungen. Öffentliche Veranstaltungen werden abgesagt, Referent:innen ausgeladen, Kooperationen aufgelöst.

Als radikale Linke straucheln wir und versuchen, das Ausmaß an Gewalt und militärischer Vergeltung zu begreifen, das sich mit und seit dem 7.Oktober materialisiert. Auf keinen Fall wollen wir uns in den Abgrund der Entmenschlichung und Kriegslogik hineinziehen lassen, der sich ausbreitet – auch und vor allem hierzulande. Sprechen wir also mit all jenen, deren Herzen voller Schmerz sind, die aber trotzdem begreifen und eine politische Haltung entwickeln wollen.

Das Recht auf Leben – für alle

Zu sagen, was ist, scheint selbst einigen unserer Freund:innen und Genoss:innen schwer zu fallen. Zu groß sind die Fliehkräfte der Polarisierung, zu abscheulich sind die begangenen Verbrechen der Hamas, zu gewaltsam das militärische Vorgehen der israelischen Regierung, zu groß die Angst, etwas Falsches zu sagen. Als Linke sollten wir dem vorherrschenden Positionierungsdruck widerstehen und uns einem Bekenntniszwang entziehen, dem es nur um die eigene "Wahrheit", nicht aber um Verständnis geht. Wir wollen und können uns auf keine andere Seite stellen, als die der Menschen, die unter dem Terror, den Raketen und der Besatzung leiden, die ihre Liebsten verlieren und um ihr eigenes Leben fürchten, deren Stimmen im Kriegsgetöse untergehen, die sich der Kriegslogik entziehen und die trotz des religiösen und nationalistischen Taumels nicht aufhören, ihre Kämpfe von unten zu führen.

Angesichts der allgemeinen rhetorischen, wie militärischen Entmenschlichung, der unbedingten Rechtfertigung des militärischen Vorgehens – trotz dessen offensichtlicher Entgleisung –, gilt es, das Recht auf Leben für alle zu verteidigen, wenn es sonst niemand mehr tut. Es gilt, alle Toten zu betrauern und das Leid der Anderen empathisch anzuerkennen, auch wenn die eigene Verletzung und die Wut tief sein mögen. Es gilt, die Rechtfertigung des Horrors durch vorangegangene Verbrechen konsequent zurückzuweisen. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte darf nicht aufgegeben werden. Eine Linke, die hinter diesem Anspruch zurückbleibt, kann einpacken. Es gilt, sich der falschen Polarisierung zu entziehen, das Entweder-oder zurückzuweisen...

Handeln in den Krisen, die kommen

Debattenblog - Sa, 11/18/2023 - 17:17

Dieser Text ist das Ergebnis vieler Diskussionen und Gespräche und vieler klugen Gedanken, die Basti mit Genoss*innen geführt und geteilt hat. Er ist motiviert von dem anhaltenden Gefühl der Orientierungslosigkeit von einem Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung und der Versuch, in und um die IL eine Debatte zu befördern, um auf diesen Zustand zu reagieren. Dabei soll es darum gehen, zu skizzieren, warum die zunehmenden Klimafolgekrisen ein Arbeitsfeld für die IL darstellen sollten und wie eine strategische Linie darin aussehen könnte.

Long story short - ich vertrete die These, dass die IL eine Praxis entwickeln sollte, die die kommenden Klimafolgekrisen zum Ausgang nimmt. Ich bin nicht der erste, der auf diese Idee kommt, glaube aber, dass es neben der politischen Notwendigkeit eine große Schnittmenge zwischen der in diesem Feld notwendigen Strategie und Praxis und der politischen Bestimmung der IL gibt.

Das Offensichtliche zuerst

Über das aktuelle Stadium der Klimakrise und die damit verwobenen multiplen Krisen der Gegenwart wurde und wird viel geschrieben. Das auszuführen soll nicht Zweck des Textes sein, aber ich möchte kurz umreißen, welche Annahmen ihm zugrunde liegen.

In den aktuellen Zeiten der beschleunigten Krisen ist Destabilisierung Programm. Die zeitliche und räumliche Kostenverschiebung, auf der die kapitalistische Akkumulation basiert und ihre relative Stabilität fußt, bekommt immer mehr Risse. Die Zukunft wird Gegenwart, Andernorts ist hier. Mit den Worten einer Genossin von der IL-Strategiekonferenz 2016: Deutschland ist einmal mehr Teil der Welt geworden. Extremer Starkregen, Waldbrände, Hitze und so weiter. All das ist schon da und wird noch zunehmen, während das Leben in vielen Teilen der Welt immer unmöglicher wird. Auch der Rest des globalen Nordens bekommt die Krisen zu spüren. Grob lassen sich (v.a für den globalen Norden) länderübergreifend zwei Projekte skizzieren, die sich implizit zur Lösung der Krisen herausgebildet haben. Da wären zum einen die verschiedenen Spielarten eines »grünen Kapitalismus« – also Ausformungen einer von den Herrschenden postulierten Krisenlösungsstrategie. In den USA ist es »Bidenomics«, hier vor Ort wahrscheinlich am ehesten die Ampel. Sie zeichnen sich aus durch eine zumindest teilweise Anerkennung der Klimakrise und den Versuch, diese mittels eines neuen Akkumulationsregimes zu lösen. Eine grüne Festung soll entstehen - nach innen (zumindest für Mittel- und Oberklasse) lebenswert, nach außen militärisch abgesichert gegen die Verwerfungen und das Elend im Rest der Welt, mit massenhaft Toten an den Außengrenzen als Folge. In Abgrenzung dazu hat sich eine rechte Allianz herausgebildet, in die auch Teile der Faschist*innen eingebunden sind. Sie setzt weiterhin auf die fossile Produktion und sucht den kleiner werdenden Kuchen an Privilegien des globalen Nordens mit aller Gewalt zu verteidigen, ob nun gegen Queers oder Geflüchtete. Sie fußt ihr Zukunftsversprechen auf der vollständigen Ausblendung der Klimakrise.

Welches dieser Projekte sich wo mittelfristig durchsetzt bleibt offen. Sie konkurrieren inner- und zwischenstaatlich miteinander vor dem Hintergrund einer entstehenden multipolaren Weltordnung, in der das internationale Machtgeflecht offensiv und teils kriegerisch neu ausgehandelt wird. Dies führt dazu, dass, platt gesagt, auch mal etwas zu Ungunsten kurzfristiger Profite oder dem Willen der Bevölkerung durchgeboxt wird, um die eigene Machtposition zu stärken. Das ist also...

Zum Krieg in Israel/Palästina

Debattenblog - So, 10/22/2023 - 22:50

Die Interventionistische Linke Berlin positioniert sich in diesem Beitrag zu den Angriffen der Hamas am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden Bombardements in Gaza.

Wir gedenken der am 7. Oktober 2023 durch die Hamas und mit ihr verbündete Gruppen wie dem Islamischen Jihad und der PFLP ermordeten, verletzten und entführten Menschen. Die Massaker trafen komplette jüdische Familien, jüdische Israelis auf dem Weg zur Arbeit und bei einem Festival, Kleinkinder, Menschen, die sich schützend vor ihre Kibbuzim oder Familien stellten, Aktivist*innen, die sich jahrelang für Frieden und gegen die Besatzung einsetzten, arabisch-israelische Sanitäter*innen, nepalesische Austauschstudent*innen und Arbeitsmigrant*innen aus Thailand. Die Angreifer mordeten, verstümmelten, folterten und vergewaltigten. Etwa 200 Personen sind immer noch in Geiselhaft. Es war ein antisemitischer Angriff, dessen erklärtes Ziel es war, jüdisches Leben als solches auszulöschen. Für diese Taten gibt es keine Rechtfertigung. Sie stehen dem, was wir wollen und wofür wir kämpfen, diametral entgegen. Wer das als Teil des legitimen Widerstands gegen eine unzweifelhaft bestehende israelische Unterdrückungs- und Besatzungspolitik rechtfertigt, ist für uns kein Partner im Kampf für eine freie und solidarische Gesellschaft.

Wir gedenken der seit dem 07. Oktober 2023 durch israelische Luft- und Artillerieangriffe und ihre Folgen in Gaza getöteten Menschen. Hier wurden ganze palästinensische Familien ausgelöscht und unter anderem Flüchtende, Verschütteten zur Hilfe Kommende, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, Journalist*innen, Ärzt*innen, Fahrer*innen von Krankenwagen und in UN-Institutionen und Schulen Schutzsuchende getötet. Wer mit Bomben und Raketen aus der Luft oder aus Artilleriegeschützen ein so eng bewohntes Gebiet wie Gaza unter Feuer nimmt, nimmt diese Menschen explizit ins Ziel, trifft weitgehend unterschiedslos alle dort Lebenden. Bei allem nachvollziehbaren Wunsch, die Hamas und ihre direkten Verbündeten zu bekämpfen, kann es auch für diese Verbrechen keine Rechtfertigung geben, ebenso wie es keine Legitimation dafür geben kann, eine komplette Bevölkerung abzuriegeln und ihnen zeitweise oder ganz Wasser, Nahrung und Strom zu entziehen. Die Rhetorik der israelischen Regierung gegenüber der Bevölkerung in Gaza ist menschenverachtend, ähnlich wie die Ignoranz gegenüber dem Leid in Gaza in Teilen der deutschen Debatten, auch bei manchen Linken. Auch das steht dem, was wir wollen und wofür wir kämpfen, diametral entgegen.

Weder der Angriff und die Massaker der Hamas und ihrer Verbündeten noch die Abriegelung Gazas und die militärischen Angriffe dort geschehen außerhalb des Kontexts eines jahrzehntelangen Konflikts. Zu diesem Kontext gehören die andauernde Belagerung des Gazastreifens, die systematische Diskriminierung von Palästinenser*innen und die völkerrechtswidrige Besatzung, ebenso wie die beständige Bedrohung jüdischen Lebens durch Raketen, Messerattentate und andere Angriffe. Dieser Kontext rechtfertigt jedoch nichts von den oben beschriebenen Verbrechen in Israel und Gaza. Das eine kann das andere nicht rechtfertigen und umgekehrt. Und für uns ist ebenso klar: Es dürfen keine Unterschiede in der Wertigkeit von Menschenleben gemacht werden. Wer den Angriff der Hamas feiert, unterscheidet. Wer es legitim findet, zwei Millionen Menschen kollektiv zu bestrafen und tausende Tote durch Luftschläge in Gaza achselzuckend hinnimmt, unterscheidet. Wer keine Empathie für das Leid der anderen Menschen aufbringen kann, unterscheidet. Es muss unsere Aufgabe sein, diesen Rechtfertigungen und dieser Empathielosigkeit entgegenzustehen und dafür zu sorgen, dass ein Ereignis...

You don‘t need no weatherman to know which way the wind blows

Debattenblog - Sa, 08/12/2023 - 13:00

Ein Plädoyer die aktuellen Suchbewegungen der Klimabewegung mit Militanz zu beantowrten. Militanz, die einen Zusammenhang zwischen Ziel und Form des Handelns deutlich werden lässt.

„Der reißende Strom wird gewalttätig genannt / Aber das Flussbett, das ihn einengt / Nennt keiner gewalttätig.“ – Bertolt Brecht

Die Klimagerechtigkeitsbewegung im globalen Norden ist lange nicht mehr marginal. Dennoch scheint sich ein glaubwürdiger Pfad zu einer annähernden Eingrenzung der Klimakrise immer weiter zu entfernen. Irreversible Klimakipppunkte wurden erreicht und der Klimakollaps ist für viele Menschen im globalen Süden schon längst bittere Realität. In Pakistan verloren 2022 über zehn Millionen Menschen ihre Häuser durch Fluten; die WHO stellte letztes Jahr so viele Tote durch die Klimakrise fest wie nie zuvor. Um die unvorhersehbaren Konsequenzen der Krise auch nur annähernd einzudämmen, müssten Staaten im globalen Norden jegliche Infrastruktur drastisch und schnellstmöglich umbauen. Stattdessen schrieben wir in 2022 das Jahr mit den weltweit meisten klimaschädlichen Emissionen seit Beginn der Aufzeichnungen. Wie positioniert sich die Klimagerechtigkeitsbewegung gegenüber dieser immer unübersehbareren Radikalisierung der Verhältnisse? In Deutschland verleihen viele Klimaaktivist*innen ihrer Hoffnung auf die Transformationsfähigkeit staatlicher Strukturen Ausdruck. Ob Baggerbesetzungen in RWEs Kohlegruben, eine Demonstration vor dem Reichstag, konsequenzenlose Gespräche mit Parlamentarier*innen oder die hundertste Petition für Klimaschutz auf Campact – was als buntes Sammelsurium wohlbekannter Aktionsformen der Klimagerechtigkeitsbewegung scheint, teilt eine entscheidende Gemeinsamkeit: die, wenn auch auf verschiedene Weise erfolgende, Bezugnahme auf den Staat. Dieser bisherige Fokus auf den Staat ist insoweit verständlich, als dass unter den existierenden nationalstaatlichen Bedingungen letztlich nur mithilfe der bestehenden staatlichen Strukturen die so dringenden ökologischen Sofortmaßnahmen getroffen werden können. Gleichzeitig ist dieser Fokus jedoch äußerst paradox, da kapitalistisch organisierte Staaten ihrer Struktur nach unfähig sind, klimagerechte Auswege aus der Krise zu schaffen. Der Staat, in dem wir leben, ist in Abhängigkeit und als Konsequenz aus der kapitalistischen Produktionsweise entstanden. Staat und Kapital gehen seit der Entstehung moderner Nationalstaaten Hand in Hand. Daraus folgt, dass staatliche Strukturen – wenn auch sie mitunter sozialdemokratische Zugeständnisse machen mögen – Kapitalinteressen über soziale Interessen wie den Schutz unserer Lebensgrundlagen priorisieren. Diese staatliche Interessensgewichtung muss im Kampf gegen die Klimakrise zentral sein, denn sie sichert das für die Klimakrise ursächliche System: das System von ausbeuterisch hergestelltem Reichtum für Wenige zum Leid der Vielen. Dies sieht man heutzutage lupenartig am Vergleich der Emissionen von Imperialmächten und kolonisierten Ländern. Beispielsweise emittierte Deutschland 2021 über 762 Millionen Tonnen Treibhausgase, während Äthiopien 19 Millionen Tonnen emittierte, obwohl dort 40 Millionen mehr Menschen als in Deutschland leben. Allein die neue EACO-Pipeline in Nordostafrika ermöglicht zwanzig Mal so hohen Emissionausstoß pro Jahr wie die Staaten Tansania und Uganda zusammen. Profitieren werden davon Akteure aus dem globalen Norden. Auch der Vergleich von Emissionen auf individueller Ebene wirft Licht auf die Verstrickung von Krise und Eigentum: Laut einer Studie von Oxfam wird das reichste Prozent der

Weltbevölkerung bis 2030 für 16 Prozent der globalen Gesamtemissionen verantwortlich sein. Ganz alltäglich erleben wir den Zusammenhang von Krise und Eigentum, wo Grundbedürfnisse wie Strom und Wohnen immer unbezahlbarer werden und die klimagerechte Umstrukturierung dieser keine Option scheint. Nicht nur...

Über postmoderne Gewissheiten: Eine Replik auf Barbara Imholz‘ Text »Kapitalkonformes Ich«

Debattenblog - Di, 08/08/2023 - 10:10

Ist die Diagnose einer umfassenden neoliberalen Subjektivierung, also auch einer Neoliberalisierung unseres politischen Selbstverständnisses, zutreffend? Der Autor Angel meldet mit diesem Debattenbeitrag seine Zweifel an. Zugleich, so betont der Genosse, spricht die Autorin in dem Ursprungstext drängende Fragen an, denen sich die radikale Linke widmen müsse.

»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.« (Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, 1944)

Die Broschüre »Die IL läuft Gefahr, Geschichte worden zu sein« dokumentiert eine Tagung zur Krise der radikalen Linken. Auf einen dieser Texte soll an dieser Stelle genauer eingegangen werden: In ihrem Text „Kapitalkonformes Ich“ stellt Barbara Imholz der radikalen Linken in Deutschland ein vernichtendes Zeugnis aus. Streitbar daran sind vor allem die Diagnosen über die Neoliberalisierung linksradikaler Subjekte und die Rolle der Postmoderne. Um zu verstehen, welche Auswirkungen das auf eine linke Gesellschaftskritik hat, lohnt es sich, die Vorwürfe von Imholz gegen »die« Postmoderne näher zu betrachten und die Rückschlüsse hinsichtlich linker Praxis zu ergründen.
Vorweg sei gesagt, dass der Text von Barbara Imholz ohne Zweifel eine lesenswerte Beschreibung davon liefert, wie Elemente kapitalistischer Herrschaft die Spätmoderne und ihre Subjekte bis ins Intimste durchziehen. Die tiefgreifenden Veränderungen der Beziehung des Subjekts zu sich selbst und zu anderen, die Verwertungslogik, die gleichsam zur zweiten Natur wird – all das sind Symptome eines Kapitalismus, der es geschafft hat, Selfcare und Selbstverwirklichung als Vorposten in der Psyche des spätmodernen Individuums zu verankern. Jedoch scheitert der Text daran, das grundlegend Neue daran offenzulegen. Daneben produziert er ein theoretisches Missverständnis zur Postmoderne und übertragt so die Subjektivierung der Spätmoderne direkt auf die Organisierungspraxis der radikalen Linken. Doch der Reihe nach:

Ein postmodernes Missverständnis

Imholz will mit dem »Begriff der Postmoderne (…) Merkmale seit den 1980er Jahren beschreiben«, verwendet ihn jedoch zugleich für eine Theorieschule, die auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard zurückgeht. Eben dieser Denkschule unterstellt sie, die totale Beliebigkeit und die Abwendung von Wahrheit zu propagieren: Die Postmoderne halte alle Werte für austauschbar, alles sei gleichgültig und somit auch politisch nicht entscheidbar. Dieser Vorwurf gegenüber „der“ Postmoderne geht leider am Kern von deren Anliegen vorbei. Freilich, Lyotard ist viel zu sperrig, um als Bezugspunkt für eine linke Praxis zu taugen. Das, was sich seit seiner Zeit als postmodernes (bzw.: poststrukturalistisches) Denken entwickelte, bedeutet aber nicht Willkür oder eine Gleichwertigkeit aller Ideen nebeneinander, sondern oftmals Konfrontation der Gegensätze ohne Versöhnung. So viel sei gesagt: Auch mit ‚postmodernem‘ Denken ist Gesellschaftskritik möglich. Am Punkt der Wahrheit bzw. Vernunft lässt sich das verdeutlichen.

Vernunft als Instrument der Herrschaft

Imholz macht eine »Chancenlosigkeit aufgeklärter Vernunft« in der Postmoderne aus. Tatsächlich wollen poststrukturalistische Ansätze – wie sie übrigens auch der von Imholz zitierte Michel Foucault verfolgt hat – nicht zwingend mit den kritischen Denktraditionen der Aufklärung brechen, sondern diese vielmehr radikalisieren: Das heißt, dass sie angeblich allgemeingültigen, selbsterklärenden und somit »vernünftigen« Wahrheiten kritisch gegenüberstehen. Sie folgen damit der Einsicht, dass die Vernunft bzw. Rationalität in der Geschichte der...

Zivilgesellschaft und Solidarität in der Türkei nach den Erdbeben

Debattenblog - Mo, 08/07/2023 - 13:06

Während der türkische Staat mit neoliberalem Urbanismus und autoritärer Politik auf die verheerenden Erdbeben in der Südtürkei und in Syrien im Februar 2023 reagiert, bemühen sich feministische und zivilgesellschaftliche Gruppen um eine solidarische Katastrophenhilfe. Ülker Sözen beschreibt in ihrem Beitrag die zivilgesellschaftliche Bewältigung der Krise mehrere Monate nach den Beben.

Seit den verheerenden Erdbeben in Maraş und Hatay sind nun mehrere Monate vergangen. Diese Erdbeben haben weite Gebiete im Süden der Türkei mit einer Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen betroffen. Die Ausmaße der Zerstörung sind mittlerweile deutlich erkennbar. Offiziellen Angaben zufolge sind über 50.000 Menschen ums Leben gekommen, 18.000 Gebäude eingestürzt, und fast 3 Millionen Menschen haben das Katastrophengebiet verlassen. Abgesehen von den menschlichen Verlusten und der Zerstörung sozialer Infrastruktur, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Erdbeben laut Schätzungen der UNO enorm. Die bereits durch die anhaltende Währungskrise geschwächte türkische Wirtschaft wird voraussichtlich einen Schaden von über 100 Milliarden Dollar erleiden.

Der türkische Katastrophen- und Notfallmanagement-Vorsitz (AFAD) hat kürzlich bekannt gegeben, dass mehr als 2 Millionen Menschen in vorläufigen Siedlungen im Katastrophengebiet leben. Lediglich 40.000 Menschen haben Container zur Verfügung, während der Rest in Zelten unterkommen muss. Diese Zelte bieten keinen ausreichenden Schutz vor Regen und Überschwemmungen. Während heftiger Regenfälle im März kosteten diese Bedingungen 18 Menschen das Leben. Die Bewohner*innen der Zeltlager und die vor Ort tätigen Aktivist*innen berichten von infrastrukturellen Problemen sowie von einem Mangel an lebenswichtigen Gütern, wie sauberem Wasser, Nahrung und Kleidung. Zusätzlich sind Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, LGBTIQ+ und andere benachteiligte soziale Gruppen, wie syrische Migrant*innen und ethnische Minderheiten, besorgniserregend. Mit der Zeit rücken die Erdbeben zunehmend in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, was zu einem Rückgang von Spenden und zivilgesellschaftlichen Solidaritätsaktionen führt.

Ursachen der Katastrophe: Neoliberaler Urbanismus und Autoritarismus

Das verheerende Ausmaß der Zerstörung zeigt den politischen Charakter dieser Katastrophe und ist eine direkte Konsequenz der unzureichenden Vorbereitung auf Notfallsituationen sowie der weit verbreiteten Korruption unter der Regierung der AKP. Die Abwesenheit staatlicher Unterstützung und das Versagen öffentlicher Behörden nach den Erdbeben werden das ohnehin schon bestehende Misstrauen der türkischen Gesellschaft gegenüber dem Staat weiter vertiefen.

Ein weiterer maßgeblicher Faktor für die Verwüstung und den Verlust zahlreicher Menschenleben ist die unkontrollierte neoliberale Stadtentwicklungspolitik, die von der AKP als zentrales Mittel zur Profitgenerierung und als Instrument ihrer Klientelpolitik eingesetzt wurde. Diese Politik beinhaltet die Enteignung risikoreicher Gebiete, darunter landwirtschaftliche Flächen und Flussufer, sowie den Bau von Wohnhochhäusern, die sich mittlere und einkommensschwache Bevölkerungsgruppen kaum leisten können. Diese Vorgehensweise verstärkt die ohnehin hohe Verschuldung der türkischen Gesellschaft. Kurz nach den Erdbeben verkündete die Regierung ihre Lösung für die Wohnungsproblematik: Sie setzt auf die Fortführung des Verschuldungsregimes und die Urbanisierung neuer Gebiete innerhalb des kommenden Jahres, die - wenig überraschend - willkürlich ausgewählt wurden und den wirtschaftlichen Interessen der AKP-Elite dienen.

Die TMMOB (Union der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern), der Dachverband von Fachleuten und Expert*innen, die eine verfassungsmäßige öffentliche Rolle bei der Überwachung von Bau- und Stadtplanungspraktiken innehat, äußert ihre Besorgnis über den knappen Zeitrahmen für den Wiederaufbau in den Katastrophengebieten. Sie kritisiert die intransparente Stadtplanung von...

Das schwarze Loch der Solidarität

Debattenblog - So, 08/06/2023 - 09:24

Die Internationalismus AG der Interventionistischen Linken hat in der ak – analyse & kritik und auch hier auf dem Debattenblog Thesen für eine linke Antikriegspraxis formuliert – an ihrer Argumentation ist fast alles falsch. so Christoph Kleine von der Ortsgruppe Hamburg. Er hat seinen Widerspruch in diesem Artikel formuliert.

Wir haben diesen Artikel für den Debattenblog gekürzt. Die vollständige Version erschien in der ak und ist hier auch online abrufbar.

Das »schwarze Loch« der Logik des Krieges, das am Anfang des Artikels »Der Krieg, die Linke und wir« als Bild bemüht wird, scheint bei den Verfasser*innen nicht nur die analytische Klarheit, sondern vor allem die Empathie mit den Angegriffenen der russischen Aggression und jegliche internationale Solidarität verschluckt zu haben.

Das Ärgerlichste kommt gleich am Anfang. Anstatt die furchtbare Lage und das politische Dilemma für alle emanzipatorischen Linken in der Ukraine anzuerkennen, dass angesichts der Invasion, der Massaker und der Brutalität des russischen Besatzungsregimes der Kampf gegen den Nationalismus und den Neoliberalismus nicht mit gleicher Kraft weitergeführt werden kann, weil die gemeinsame Verteidigung der Ukraine Priorität haben muss, wird den Genoss*innen vom deutschen Sofa aus erklärt, sie würden »den Klassenkampf in Form der Nation aufheben«, und als Gipfel der Anmaßung dann noch, sie würden damit »andere Kämpfe um Befreiung (verunmöglichen)«.

Auch die deutliche Positionierung russischer Kriegsgegner*innen, die den vollständigen Rückzug der russischen Invasionstruppen aus der Ukraine fordern und einem großen Teil der Linken im Westen vorwerfen, »das Wesen dieses Krieges« und die inneren Motive des russischen Imperialismus nicht zu verstehen, wird lapidar vom Tisch gewischt: Das sei zwar nachvollziehbar, aber »unser Einsatz hier in Deutschland muss ein anderer sein.«

Aber warum sind »wir« stärker zur Suche nach Alternativen aufgerufen als die Hauptbetroffenen, die entweder, wie die ukrainischen Genoss*innen, in dem überfallenen Land leben oder aus ihm fliehen mussten oder, wie die russischen Genoss*innen, in akuter Gefahr stehen, als Kanonenfutter für einen ungerechten Krieg an die Front geschickt zu werden? Ganz nebenbei wird mit dem Begriff des »langandauernden Abnutzungs- und Stellungskriegs« noch die Kreml-Erzählung eingewoben, dass der Widerstand der Ukraine ohnehin aussichtslos sei. Dabei ist auch der Vorschlag von (inhaltlich unbestimmten) Verhandlungen nur deshalb möglich, weil es durch den militärischen Widerstand überhaupt noch eine souveräne Ukraine gibt.

Linkes Okay für Besatzung?

Die politische Perspektive für die Ukraine lautet für diese Form des »Antimilitarismus«: sofortiger Waffenstillstand und »Einfrieren«, was angesichts des Verzichts auf die Forderung nach dem Rückzug der russischen Armee nichts anderes heißt als: Hinnahme der russischen Besatzung von etwa 20 Prozent der Ukraine, inklusive der Unterdrückung und der Massaker, die in den besetzten und annektierten Gebieten geschehen.

Dieser moralische Pazifismus unter der Parole »Hauptsache das Sterben hört auf« ist – gerade aus dem Munde radikaler Linker – ebenso überraschend wie unglaubwürdig. Die Geschichte der Linken ist voll von aussichtslosen Kämpfen, deren Andenken wir dennoch hochhalten. Vom antiken Spartakus über die Bauernkriege, die Pariser Kommune bis zum Spanischen Bürgerkrieg, um nur einige Beispiele zu nennen. Der linksradikale Einsatz lautete stets: »Rebellion und Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung sind gerechtfertigt.« Natürlich...

Seit' an Seit': Busfahrer*innen und Klimabewegung

Debattenblog - Mo, 07/10/2023 - 16:51

Das Antikapitalistische Klimatreffen München will die Parole »Klimakampf heißt Klassenkampf« wahr werden lassen. Sie berichten von ihrem Schulterschluss mit den Beschäftigten des öffentlichen Nahverkerhs in München im Zuge der Tarifauseinandersetzungen Anfang des Jahres. Eins wird deutlich: Beziehungspflege, Verlässlichkeit und Mut sind hierbei notwendig gewesen.

Anfang dieses Jahres haben sich die Klimabewegung und Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs in ganz Deutschland zusammengetan, um Seite an Seite für Klimaschutz und bessere Löhne zu kämpfen. Die Highlights in München waren einerseits unsere Blockade von Streikbrecher*innen zur Unterstützung des Arbeitskampfes während der Tarifverhandlungen im Nahverkehr. Und auf der anderen Seite ist die sehr hohe Beteiligung von Beschäftigten beim globalen Klimastreik am 3. März. Wir vom Offenen Antikapitalistischen Klimatreffen München wollen erklären, warum der Zusammenschluss von Klimaschutz und Klassenkampf eine so entscheidende Rolle spielt, und von unseren Erfahrungen bei der konkreten Arbeit dazu berichten.

Warum gehören die Kämpfe zusammen?

In den letzten Jahren ist ein Slogan immer wieder auf Klimademos und Veranstaltungen aufgetaucht: »Klimakampf ist Klassenkampf« Denn wenige Superreiche tragen die Hauptverantwortung an der sich verschlimmernden Klimakrise und profitieren von dieser, während der Rest der Bevölkerung (in unterschiedlichem Ausmaß) unter den jetzigen und zukünftigen Folgen leidet. Der Staat unterstützt dieses Gefälle sogar: so ist es im Kapitalismus völlig normal, für Autokonzerne Autobahnen durch Wälder zu bauen, während die Beschäftigten im ÖPNV schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne dulden sollen. Der ÖPNV ist im Gegensatz zum Individualverkehr wesentlich klimafreundlicher, doch als »bloße« Daseinsvorsorge ermöglicht er eben nicht die hohen Profite und das Wachstum, das Autokonzerne durch Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzielen. Wir wollen dieses System, das einigen wenigen die Macht über die Produktion und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gibt, überwinden. Wir wollen ein Klassenbewusstsein schaffen und gemeinsam mit Beschäftigten eine Gegenmacht zur Ausbeutung und Klimazerstörung aufbauen.

Im ÖPNV zeigt sich derzeit, wie das Scheitern der Verkehrswende nicht nur mit der einseitigen Unterstützung der Autokonzerne, sondern auch mit der Ausbeutung von Beschäftigten zusammenhängt: Seit 1998 müssen 18% weniger Beschäftigte 24% mehr Fahrgäste transportieren. Der wachsende Druck führt immer häufiger zu Erkrankungen und Personalausfällen. Durch die schlechten Löhne kommen kaum neue Fachkräfte, sodass es bereits jetzt schwierig ist, die mangelhafte Personalanzahl im ÖPNV zu halten. Von einem Ausbau kann gar nicht die Rede sein. Und so ist es nicht nur für die Beschäftigten selbst, sondern auch für die Klimagerechtigkeit von großer Bedeutung, dass die Beschäftigten sich gute Arbeitsbedingungen und Löhne mithilfe von Streiks erkämpfen. Als Klimaaktivist*innen können wir diese Kämpfe unterstützen und politisieren.

Wie sah unsere konkrete Arbeit aus?

Um zu den laufenden Tarifverhandlungen im Nahverkehr mit den Beschäftigten in Kontakt zu kommen, sind wir deshalb mehrmals wöchentlich zu Busbahnhöfen, Brotzeithäuschen und Haltestellen gegangen. Wir sind mit den Fahrer*innen ins Gespräch gekommen und haben sie mit Flyern zu einem gemeinsamen Brunch und einer Podiumsdiskussion eingeladen. Mit Flyern, die sich an die Fahrgäste richteten, haben wir diese zur Solidarität mit potenziellen Streiks aufgerufen und mit Plakaten im öffentlichen Raum die Verbindung von Arbeitskampf und Klimaschutz sichtbar gemacht. Tatsächlich wurden entdeckte Plakate von Beschäftigten in internen WhatsApp-Gruppen immer wieder geteilt. Gleichzeitig...

Seit an Seit: Busfahrer*innen und Klimabewegung

Debattenblog - Mi, 06/21/2023 - 17:02

Das Antikapitalistische Klimatreffen München will die Parole "Klimakampf heißt Klassenkampf" wahr werden lassen. Sie berichten von ihrem Schulterschluss mit den Beschäftigten des öffentlichen Nahverkerhs in München im Zuge der Tarifauseinandersetzungen Anfang des Jahres. Eins wird deutlich: Beziehungspflege, Verlässlichkeit und Mut sind hierbei notwendig gewesen.

Anfang dieses Jahres haben sich die Klimabewegung und Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs in ganz Deutschland zusammengetan, um Seite an Seite für Klimaschutz und bessere Löhne zu kämpfen. Die Highlights in München waren einerseits unsere Blockade von Streikbrecher*innen zur Unterstützung des Arbeitskampfes während der Tarifverhandlungen im Nahverkehr. Und auf der anderen Seite ist die sehr hohe Beteiligung von Beschäftigten beim globalen Klimastreik am 3. März. Wir vom Offenen Antikapitalistischen Klimatreffen München wollen erklären, warum der Zusammenschluss von Klimaschutz und Klassenkampf eine so entscheidende Rolle spielt, und von unseren Erfahrungen bei der konkreten Arbeit dazu berichten.

Warum gehören die Kämpfe zusammen?

In den letzten Jahren ist ein Slogan immer wieder auf Klimademos und Veranstaltungen aufgetaucht: "Klimakampf ist Klassenkampf" Denn wenige Superreiche tragen die Hauptverantwortung an der sich verschlimmernden Klimakrise und profitieren von dieser, während der Rest der Bevölkerung (in unterschiedlichem Ausmaß) unter den jetzigen und zukünftigen Folgen leidet. Der Staat unterstützt dieses Gefälle sogar: so ist es im Kapitalismus völlig normal, für Autokonzerne Autobahnen durch Wälder zu bauen, während die Beschäftigten im ÖPNV schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne dulden sollen. Der ÖPNV ist im Gegensatz zum Individualverkehr wesentlich klimafreundlicher, doch als "bloße" Daseinsvorsorge ermöglicht er eben nicht die hohen Profite und das Wachstum, das Autokonzerne durch Ausbeutung von Mensch und Umwelt erzielen. Wir wollen dieses System, das einigen wenigen die Macht über die Produktion und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen gibt, überwinden. Wir wollen ein Klassenbewusstsein schaffen und gemeinsam mit Beschäftigten eine Gegenmacht zur Ausbeutung und Klimazerstörung aufbauen.

Im ÖPNV zeigt sich derzeit, wie das Scheitern der Verkehrswende nicht nur mit der einseitigen Unterstützung der Autokonzerne, sondern auch mit der Ausbeutung von Beschäftigten zusammenhängt: Seit 1998 müssen 18% weniger Beschäftigte 24% mehr Fahrgäste transportieren. Der wachsende Druck führt immer häufiger zu Erkrankungen und Personalausfällen. Durch die schlechten Löhne kommen kaum neue Fachkräfte, sodass es bereits jetzt schwierig ist, die mangelhafte Personalanzahl im ÖPNV zu halten. Von einem Ausbau kann gar nicht die Rede sein. Und so ist es nicht nur für die Beschäftigten selbst, sondern auch für die Klimagerechtigkeit von großer Bedeutung, dass die Beschäftigten sich gute Arbeitsbedingungen und Löhne mithilfe von Streiks erkämpfen. Als Klimaaktivist*innen können wir diese Kämpfe unterstützen und politisieren.

Wie sah unsere konkrete Arbeit aus?

Um zu den laufenden Tarifverhandlungen im Nahverkehr mit den Beschäftigten in Kontakt zu kommen, sind wir deshalb mehrmals wöchentlich zu Busbahnhöfen, Brotzeithäuschen und Haltestellen gegangen. Wir sind mit den Fahrer*innen ins Gespräch gekommen und haben sie mit Flyern zu einem gemeinsamen Brunch und einer Podiumsdiskussion eingeladen. Mit Flyern, die sich an die Fahrgäste richteten, haben wir diese zur Solidarität mit potenziellen Streiks aufgerufen und mit Plakaten im öffentlichen Raum die Verbindung von Arbeitskampf und Klimaschutz sichtbar gemacht. Tatsächlich wurden entdeckte Plakate von Beschäftigten in internen WhatsApp-Gruppen immer wieder geteilt. Gleichzeitig...

Gemeinsam gegen Staat und Repression

Debattenblog - So, 06/18/2023 - 15:18

Die Aktionen und Proteste rund um die Urteilsverkündung im so genannten Antifa-Ost-Verfahren treten abermals Debatten rund um das Ausmaß polizeilicher und staatlicher Repression los. Darin die Visionen einer befreiten Gesellschaft zu markieren und vermittelbar zu machen, sollte nach Ansicht der Autor*innen zentral gesetzt werden.

Was ist passiert?

Wir haben über mehrere Tage erlebt, dass die Behörden versucht haben, jede politische Meinungsäußerung auf der Straße rabiat zu verhindern. Angefangen mit der Demo in Leipzig am Tag der Urteilsverkündung, die am Platz der Auftaktkundgebung gekesselt und zerschlagen wurde. Weiter mit der Repression gegen die Demo »Tag der Jugend« am Weltkindertag, den 1. Juni 2023. Ebenso wurden beim Massencornern am Freitag, den 2. Juni 2023, Genoss*innen verhaftet. Samstag, am 3. Juni 2023, dann der 11-Stunden-Kessel, die langandauernde Schikane und eine vorbereitete Eskalation: Minderjährige Kinder wurden aus dem Kessel nicht zu ihren Eltern gelassen; Menschen, die medizinische Versorgung benötigten, mussten von Demosanitäter*innen im Kessel behandelt werden; der Zugang zu sanitären Anlagen wurde in Einzelfällen gewährt, jedoch war unklar, ob Menschen dafür direkt in die Gesa müssen. Hunderte Handys wurden eingesackt und Menschen, bei denen Wechselklamotten vermutet wurden, wurden aufgrund dessen in die Gesa gebracht, anstatt aus dem Kessel entlassen zu werden. Tags drauf ein weiterer Kessel und die Personalienfeststellung für den Gesa-Support und das Demoverbot für die angemeldete Versammlung gegen die Polizeigewalt der nächsten Tage.

Was sticht heraus?

Dass der Staat nur selten eine Gelegenheit auslässt, Linke zu drangsalieren, überrascht uns nicht. Jedoch scheint das Vorgehen der Cops von langer Hand geplant worden zu sein. So wurde nicht nur in Leipzig die Demo am 4. Juni 2023 für Solidarität mit den Verurteilten von den Cops attackiert, auch in anderen Städten reagierten sie ähnlich. In Bremen beispielsweise sollte die Demo auf keinen Fall laufen. Wir betrachten das Agieren der Behörden auf der Straße als Ausläufer des Prozesses. Auch im Gerichtssaal sollte Stärke demonstriert und die antifaschistische Linke ruhiggestellt werden. Ebenso draußen. Und wir sehen, dass sich so viele Menschen bereits durch den aufgefahrenen Polizeiapparat aus Angst vor Polizeigewalt und Repression gar nicht erst auf die angemeldete Demonstration am Samstag getraut haben, geschweige denn eine Möglichkeit des Ausdrucks über den Gerichtsprozess und das Urteil finden konnten. Und die am Samstag, den 03.06. eingesetzte Repression wirkt, denn sie wird Menschen auch von der Teilnahme an zukünftigen Demonstrationen und Aktionen, die von einer erhöhten Repression betroffen sein mögen, abhalten.

Lasst uns dabei aber nicht vergessen: Trotz der Repressionsszenarien im Vorfeld, trotz der Größe des aufgefahrenen Polizeitaufgebots, trotz der Befürchtung, dass sich das »nicht lohnt«, sind so viele Menschen am Samstag auf die Straße gegangen, um ihrer Wut über das Urteil und über die Demoverbote Ausdruck zu verleihen. Und so viele der Eingekesselten sind auch am Montag wieder auf die Straße gegangen, um wiederum ihrer Wut gegenüber der erlebten Repression und Gewalt Ausdruck zu verleihen. Und so viele Genoss*innen haben im Hintergrund und im Nachgang Unterstützungsarbeit für die Eingekesselten und Inhaftierten geleistet und tun es noch. Lasst uns das nicht vergessen, denn das zeigt unsere Kraft und unser Zusammenhalten,...

Ist Rojava eine sozialistische Utopie?

Debattenblog - Mo, 05/01/2023 - 11:32

Für die einen ist Rojava eine gelebte sozialistische Utopie, von anderen wird es als kurdisches Nationalprojekt abgetan. Dass diese Widersprüche Teil des revolutionären Prozesses sind und in die Geschichte der Selbstverwaltung Rojavas eingeschrieben sind, argumentiert Matt Broomfield in seinem Beitrag, der zuerst bei UnHeard erschienen ist.

Um einen Streit unter westlichen Linken zu entfachen, muss man nur das Wort »Rojava« erwähnen. Seit seiner Gründung vor einem Jahrzehnt hat das kurdisch geführte politische Projekt die Linke in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite wird die Region von ihren Befürworter*innen als egalitäre, ökologische und direktdemokratische Utopie gepriesen; auf der anderen Seite wird sie von ihren Gegner*innen als ethnisch segregierter, vom Öl abhängiger Kleinstaat abgetan, der nur dem kurdischen Nationalismus dient. Welche Seite liegt richtig?

Von 2018 bis 2020 habe ich drei Jahre lang in Rojava gelebt, der Region der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Dort habe ich fast jeden Tag eine andere Ansicht zu den Erfolgen der Revolution gehört. US-Militärs sahen die Selbstverwaltung als nützlichen Verbündeten gegen den IS und als Gegengewicht zum Einfluss des Iran. Kurd*innen, Frauen, christliche und jesidische Dorfbewohner*innen waren angesichts der ethnischen Säuberungen durch die Türkei und den IS pragmatisch dankbar dafür, dass Rojava die höchsten Standards in Bezug auf Menschenrechte und humanitäre Versorgung in ganz Syrien bietet.

Manche anarchistische Freiwillige verließen das Land jedoch enttäuscht, da ihre idealisierte Sicht auf die »Rojava-Revolution« mit der Realität der Massenarmut, des begrenzten politischen Engagements und eines immer stärker werdenden Sicherheitsapparats kollidierte. Viele andere blieben und akzeptierten die ideologischen »Widersprüche« als Teil des revolutionären Prozesses. In der Tat: In den Jahren seit 2013 ist klar geworden, dass die Revolution niemals hätte überleben können, wenn sie nicht eine Reihe von scheinbar widersprüchlichen Funktionen erfüllt hätte.

Aus den Bergen nach Rojava

Rojava erlangte Autonomie, nachdem sich die Kräfte des Regimes während des syrischen Aufstands 2011/12 aus dem kurdischen Norden des Landes zurückzogen. Infolgedessen konnten kurdische Kämpfer*innen, ihrem inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan treu ergeben, aus den Gebirgsregionen, in denen sie lange Zeit einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Türkei geführt hatten, nach Nordsyrien gelangen. Dort in den Bergen lebten die überzeugten Kader*innen ein notwendigerweise gemeinschaftliches und bescheidenes Leben. Kurd*innen, die Zeit »in den Bergen« verbracht haben, sprechen voller Nostalgie über die Genoss*innenschaft und die ganzheitliche Beziehung zur Natur, die sie dort erlebten. Doch diese politischen Aktivist*innen sahen sich nun nicht nur damit konfrontiert, den IS, den Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra und die türkische Armee abzuwehren, sondern standen auch vor dem Aufbau einer Gesellschaft, die Millionen Menschen versorgen muss.

Diese lebenslangen Parteigänger für die kurdische Sache erfuhren eine geradezu überwältigende Rechtfertigung ihres Kampfes. Eine Frau mittleren Alters erzählte mir mit leuchtenden Augen, dass sie ihr ganzes Leben dem Kampf gegen die Türkei geopfert hat – 38 der 40 Genoss*innen ihrer ersten Ausbildungsgruppe starben in diesem Kampf. Und dann entstand unverhofft in Syrien die Gelegenheit, einen Teil der kurdischen Heimat befreien zu können. Unter vier Augen sprechen die kurdischen Militanten jedoch oft über ihre Frustration mit der widerstrebenden lokalen Bevölkerung, die sich nicht sonderlich für die hochtrabenden...

Die Erde brennt - wann brennt die OMV?

Debattenblog - Mi, 04/19/2023 - 18:15

Vor Kurzem hat in Wien die European Gas Conference stattgefunden - und mit ihr kamen die Proteste in die Stadt. Dieser Artikel gibt einen Überblick über gelungene Aktionstage und fragt zugleich nach ihrer Wirksamkeit.

»Let's crash the fossil Champagne Party« hieß es in der Mobilisierung zu den Aktionstagen in Wien. Und um es vorwegzunehmen: Das hat funktioniert. Die OMV (Österreichische Mineralölverwaltung), ein Konzern der im letzten Jahr 5,1 Milliarden Euro Gewinn mit Klimazerstörung, Krieg und Teuerungen gemacht hat, lud dieses Jahr vom 27.-29. März zur European Gas Conference (EGC) nach Wien. Das Lobbytreffen fand im Mariott Hotel mit wichtigen Vertreter*innen aus der Öl und Gasbranche wie Shell, BP oder RWE statt. Während es um »Europas zukünftige Energieversorgung« ging - also: den Ausbau von Gasinfrastruktur oder Förderung von fossilem Gas auf der ganzen Welt, vor allem aber im globalen Süden -, waren Journalist*innen und die Öffentlichkeit von der Konferenz ausgeschlossen. Klimazerstörungspolitik im Hinterzimmer.

Massen an Menschen kamen aus ganz Europa nach Wien, um der EGC keine ruhige Minute zu lassen und in vielfältigen Aktionen gegen den Normalzustand von Energiepolitik, Versorgungsungerechtigkeit und (neo-)kolonialer, ausbeuterischer Energieproduktion zu protestieren. Der dreitägige Gegenkongress »Power to the People« beschäftigte sich unter anderem mit systemischen Krisen wie Klima-, Energie- und Krieg und damit, wie solidarische Energiesysteme der Zukunft aussehen können. Er war Ausgangspunkt für verschiedene Protestaktionen. Am Sonntag starteten die Aktionen zivilen Ungehorsams des »Block Gas«–Bündnisses mit einer Blockade des Privatjetterminals am Flughafen Wien. Montag machten zwei Aktionsfinger der Konferenz Stress, indem sie die Zufahrtstraßen zum Hotel dichtmachten. Am Dienstag blockierten zwei Finger erfolgreich die Ölraffinerie der OMV in Schwechat am Rande von Wien. Für knapp 10 Stunden war dort die Straße des Haupteingangs zu und die Güterzufahrt besetzt. Danach zogen über 7.000 Menschen mit einer Großdemonstration durch Wien, vorbei am Mariott Hotel. Es gab einen Bannerdrop am Rathaus Wien und am Abend störten eingeschleuste Aktivist*innen das Galadinner der EGC. In Deutschland gab es im Bezug auf die Proteste Besetzungen von Gaskraftwerken in Berlin, Jena und Erlangen.

Aber was bewirken Störungen?

So kraftvoll unsere Aktionen auch waren, stellt sich doch wie immer die Frage nach der Wirksamkeit. Ist die Konferenz strategisch wirklich das beste Angriffsziel? Ist sie nicht ein Ort, an dem wir politisch wenig ausrichten können? Sollten wir nicht an Orte der Zerstörung gehen, an denen wir tatsächlichen Schaden anrichten können? Dann stellt sich die Frage: Was heißt es denn, tatsächlich zu schaden? Schaden wir einem Konzern schon, wenn der Betriebsablauf für einen Tag gestört wird, oder erst wenn tatsächliche Veränderung - und auf die muss natürlich auch diskursiv hingearbeitet werden - passiert?

Diese Fragen lassen sich nicht pauschal beantworten. Veranstaltungen wie die EGC sind darauf ausgelegt, ungestört tagen zu können und ihre Ergebnisse weitgehend unwidersprochen präsentieren zu können. Sie sind das Symbol dafür, wie unsere Gesellschaft funktioniert: wenige Konzernbosse und Politiker*innen entscheiden in Hinterzimmern über gesamtgesellschaftliche Belange, die Millionen von Menschen angehen und weitreichende Konsequenzen für uns alle haben. Wie in diesem Fall über die zukünftige Energieversorgung in Europa. Zehn Stunden lang saß ein Finger...

Ende Gelände - Ein Gruß aus der Zukunft

Debattenblog - Mi, 03/29/2023 - 09:43

Ende Gelände hat als Bündnis nach über acht Jahren und zehn großen Massenaktionen entschieden, in 2023 keine bundesweite Massenaktion zu organisieren, um sich stattdessen auf die Suche nach Hebeln zu begeben, die unseren politischen Zielen treu bleiben. Wir wollen neue und vielfältigere Aktionsformen ausprobieren, uns dabei mit Verbündeten zusammentun und die Möglichkeiten für eine radikale Veränderung der Gesellschaft hin zu einer klimagerechten Welt erweitern. Mit diesem Text wollen wir unsere langfristige Vision und die politischen Argumente dafür teilen, um uns und unseren Freund* innen Mut zu machen, entschlossen und gemeinsam für einen radikalen Bruch mit dem kapitalistischen Normalzustand und den existenziellen Krisen zu kämpfen, die dieser Normalzustand verursacht. Dies ist der Versuch einer Skizze welche Wünsche und Visionen wir als Bewegung für die nächsten zwei Jahre haben, um dann im zweiten Teil die politische Notwendigkeit einer neuen antikapitalistischen Allianz darzulegen.

Ein mögliches 2025

Die Klimakrise spitzt sich immer weiter zu, und mit ihr haben sich auch weitere geopolitische Krisen verstärkt. Global ringen Nationalstaaten immer stärker und aggressiver um Macht und den Zugang zu immer knapper werdenden Ressourcen. Rechte Kräfte haben noch mehr Aufwind bekommen, militärische Aufrüstung und Abschottung ist das bestimmende Thema in Europa. Konservative Kräfte versuchen, auch noch das Letzte aus dem ausbeuterischen System herauszupressen, aber ihre breite Unterstützung fängt mehr und mehr an zu bröckeln.

Aber auch die Klimabewegung ist so stark wie schon lange nicht mehr und hat sich in den letzten Jahren noch offensichtlicher geteilt: in einen reformistischen Teil mit NGOs, Grüner Jugend und Teilen von FFF auf der einen und einen radikalen, emanzipatorischen Teil auf der anderen Seite. Während punktuell und strategisch Zusammenarbeit stattfindet, sind sie in der öffentlichen Sicht klar getrennt. Der radikale Teil hat sich 2023 angefangen, zu einer antikapitalistischen Allianz zusammen zu schließen, und hat so Strahlkraft und Vernetzung auch in andere linksradikale Kämpfe geschaffen. Bezogen auf den Kapitalismus ist der radikalen Klimagerechtigkeitsbewegung eine starke Diskursverschiebung gelungen. Für die gesamte Gesellschaft ist Kapitalismus nicht mehr zu trennen von Ausbeutung an Menschen und Umwelt, und auch die Reformierbarkeit des Systems wird offen in Frage gestellt. Für alle ist klar, dass eine klimagerechte Welt nur jenseits vom Kapitalismus umsetzbar ist. Die Gesellschaft weiß, dass sie sich zwischen der rechten Erzählung von menschenverachtender Ausbeutung und Abschottung und dem guten Leben für alle entscheiden muss.

Der kapitalistische Alltagsverstand, dass alles schon irgendwie weitergehen kann, ist zerstört, und die antikapitalistische Klimagerechtigkeitsbewegung wird nicht müde, genau an diesen Punkten zu intervenieren. Das passiert durch immer neue und größere Aktionen. Durch das Zusammenspiel der vielfältigen Aktionen und Aktionsformen einer antikapitalistischen Allianz und der inhaltlichen Verbindung zwischen den einzelnen Aktionen, ist es gelungen, die Systemfrage immer stärker in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskurse zu stellen. Auch in Arbeitskämpfen und in Streiks hat die Systemfrage eine zentrale Rolle eingenommen. Dadurch werden radikale Transformationsmöglichkeiten, mit dem Ziel einer Überwindung der kapitalistischen Katastrophe hin zu einer gerechten Gesellschaft, in weiten Teilen der Gesellschaft diskutiert und zunehmend ausprobiert.

Geschafft hat die Klimabewegung das zum einen durch ein gemeinsames starkes Auftreten, in dem intern ein Raum...

Der Krieg, die Linke und wir

Debattenblog - Mo, 03/27/2023 - 16:57

Die Antikriegspraxis der deutschen Linken lässt derzeit zu wünschen übrig, so die Autor*innen dieses Artikels. Was es braucht, sei die Analyse von Ursachen des Krieges sowie Versäumnissen der Linken und die Entwicklung neuer Strategien, die es schaffen, kommende Kriege zu verhindern. Waffenlieferung und Aufrüstung seien davon klar kein Teil.

Die Logik des Krieges ist ein Schwarzes Loch. Die Idee der Nation ist sein Prinzip, seine Gravitation. Alles, was sich nicht umstandslos auf der »richtigen Seite« der Kriegsparteien einreihen lässt, wird von dieser Schwerkraft an sich gezogen und verschluckt. Zwischenräume gibt es nicht. Die Logik des Krieges braucht die Nation als Grundlage ihres Seins. Sie dehnt sie gleichzeitig in ihren verschiedenen Dimensionen aus und radikalisiert sie: als historischer Mythos und als existentielle (Not-)Gemeinschaft. Sie mobilisiert die reaktionärsten Fraktionen des Kapitals, des Staatsapparates und der Zivilgesellschaft für Aufrüstung und nationale Wirtschaftsinteressen.

Wenn sich Teile der ukrainischen Linken dazu entschlossen haben, sich in den Selbstverteidigungskampf der ukrainischen Nation einzugliedern, dann konstituieren sie sich dadurch als Teil eben dieser ukrainischen Nation und verunmöglichen gleichzeitig andere Kämpfe um Befreiung, mit anderen Worten: Sie heben den Klassenkampf in der Form der Nation auf. Aus dem Gravitationszentrum des Schwarzen Lochs dringt nichts mehr nach außen, die Linke droht eine Gefangene im Ereignishorizont des Schwarzen Lochs zu werden.

Parteiverbote, Verbote von kritischen Medien, der Abbau von Arbeiternehmer* innenrechten und die Zwangsrekrutierung der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren werden von der ukrainischen Regierung mit dem Kriegszustand und seinen Notwendigkeiten begründet, dem sich Teile der ukrainischen Linken unterworfen haben. Die hilflose Bitte von Vitalyi Dudin, dem Vorsitzenden von Sotsyalnyi Rukh (Soziale Bewegung) per Brief an den ukrainischen Präsidenten Selenskyi gerichtet, doch bitte gegen die Arbeitsmarktreform Einspruch zu erheben, die eben jener doch selbst initiiert hatte, ist ein Beispiel für die unwiderstehliche Schwerkraft des Schwarzen Lochs. Nicht nur in der Ukraine, auch für uns Linke in den indirekt beteiligten Staaten, werden durch die Fortdauer des Kriegs die Kampfbedingungen verschlechtert. Im globalen Süden stellt sich nicht nur die Frage nach der Verschlechterung der Kampfbedingungen, sondern jene nach dem nackten Überleben für Millionen von Menschen, die besonders vom anhaltenden Wirtschaftskrieg betroffen sind und sich daher bewusst nicht an diesem beteiligen wollen.

Krieg und Faschismus

Teile der ukrainischen Linken begründen ihren Schritt der Unterordnung unter die Nation mit dem Argument, es würde ihre Kampfbedingungen in der Zukunft verbessern. Zweifellos wollen weite Teile der Bevölkerung und erst recht die emanzipativen Strömungen in ihr nicht in einer russischen Besatzungszone leben oder gar Teil von Neurussland werden. Wer könnte das nicht nachvollziehen?

Aber die verzweifelte Hoffnung, aus dem Ende des Krieges als gestärkte oder gar als irgendwie gleichberechtigte Kraft hervorzugehen, scheint uns eine zutiefst unrealistische Einschätzung zu sein. Das enge und sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Krieg und Faschismus zeigt sich auch in diesem Konflikt; und das nicht nur an dem aggressiven Angriffskrieg des russischen Regimes, sondern auch daran, dass auf beiden Seiten Naziverbände kämpfen, aber auch und vor allem an den innenpolitischen Konsequenzen auf beiden Seiten.

Auch auf Seiten der Ukraine können wir...

Blutflecken auf dem Teppich

Debattenblog - So, 03/26/2023 - 15:53

Ewgeniy Kasakow gibt einen spannenden Einblick in die Vielschichtigkeit der Russischen Linken. Diese wird vor allem in der Positionierung hinsichtlich des Krieges in der Ukraine deutlich. Hierfür werden kurze Eindrücke der politischen Situationen der Kriegsgegner Michail Lobanow und Jewgeni Stupin gegeben.

Michail Lobanow verließ am 13. Januar 2023 den Knast. Der Mathematikdozent der Moskauer Staatlichen Universität saß eine fünfzehntägige Haft ab. Zu dieser wurde er in Moskau wegen angeblichen Widerstandes bei seiner Festnahme am 29. Dezember verurteilt. An diesem Tag flexten die Polizisten die Tür der Wohnung von Michail Lobanow und seiner Ehefrau und Kollegin Alexandra Sapolskaja auf. Der bekennende Kriegsgegner und Sozialist wurde drei Stunden lang verhört. Währenddessen wurde er mehrmals geschlagen und getreten. Noch bevor die Beamt*innen die durchsuchte Wohnung verließen, ging durch die russischsprachigen Telegramkanäle die Fotos von Lobanow mit Misshandlungsspuren im Gesicht und Blutflecken auf dem Wohnungsteppich. Erst nachdem Lobanow das Gefängnis verließ, klärte sich die Frage nach der Quelle: die Aufnahmen machten die Beamt*innen selbst und brachten sie durch die anonyme Telegramgruppen in Umlauf. Die Aussage dürfte klar sein: die Konsequenzen von oppositionellen Aktivitäten sollen unmissverständlich deutlich gemacht werden.

Als eigentlicher Grund für die Hausdurchsuchung wurde der Kontakt zu Ilja Ponamarjow angegeben. Der ehemalige linke Aktivist und Duma-Abgeordnete Ponamarjow ruft heute aus dem Ausland zum bewaffneten Kampf gegen Putin auf und behauptet Kontakte zur sogenannten »Republikanische Nationale Armee« (RNA) zu haben. Diese übernahm die Verantwortung für den Mordanschlag auf die Propagandistin Darja Dugina am 20. August 2022. Die Existenz der RNA wird jedoch vielfach angezweifelt. Auch Lobanow konnte der Kontakt bisher nicht nachgewiesen werden.

Es war bereits der zweite Gefängnisaufenthalt für Michail Lobanow, dem Mitbegründer der Hochschulgewerkschaft »Uniwersitetskaja Solidarnost«, innerhalb von einem Jahr. Dem Jahr, indem am 24. Februar der Krieg begann. Am 7. Juni wurde er für ein vom Balkon gespannten »Nein zum Krieg«-Transparent zu seiner ersten fünfzehntägigen Haft verurteilt. Mit der zweiten Festnahme endet die Geschichte der Einschüchterungsversuche gegen das Ehepaar Lobanow und Sapolskaja jedoch nicht. Bald nach der Freilassung Lobanows wurde die neue Wohnungstür mit »Z«-Zeichen übersprayt und die Nachbar*innen fanden denunziatorische Flugblätter in ihren Briefkästen.

Bekannt wurde Michail Lobanow, der sich selbst als »demokratischer Sozialist« im Sinne von Bernie Sanders und Jeremy Corbyn bezeichnet, unter anderem bei den Dumawahlen im Herbst 2021. Damals führte der parteilose Kandidat der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) im Moskauer Wahlbezirk Kunzewo 31,65% (72 805 Stimmen). Lange Zeit sah es so aus, als würde Lobanow den Parlamentssitz bekommen. Doch dann kam die Auszählung der via Internet abgegebenen Stimmen und zum Sieger wurde der Fernsehmoderator Jewgeni Popow, der Kandidat der Putin-Partei »Einiges Russland« (ER). Auf ihn entfielen 35,17 % der Stimmen.

Lobanow wurde nicht nur von einem breiten linken Bündnis von Gewerkschaften, trotzkistischen und linkssozialistischen Gruppen unterstützt, sondern auch von den Unterstützer*innen des liberalen Oppositionellen Alexei Nawalny. Nawalny, dessen Anhänger*innen keine eigene Partei registrieren dürften, rief damals zum »smart voting« auf – in jedem Wahlbezirk sollten die jeweils aussichtsreichsten Kandidat*innen der Opposition gewählt werden, ohne Rücksicht auf die ideologische Differenzen.

Zu den Profiteur*innen des Modells »Liberale...

Überlegungen für eine neue Antikriegsbewegung

Debattenblog - So, 03/12/2023 - 13:22

Was tun gegen Krieg und Militarisierung? Seit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine vor mittlerweile mehr als einem Jahr ist diese Frage aktueller denn je. Trotzdem tuen sich gesellschaftliche und radikale Linke weiterhin äußerst schwer, hierauf Antworten zu finden. Höchste Zeit also für eine Reflexion der Erfahrungen, die im Rahmen der Initiative »Rheinmetall Entwaffnen« gemacht wurden.

Wir haben es selbst wiederholt gesagt und hören es jetzt immer häufiger: Es brauche eine »neue Antikriegsbewegung«. Gemeint ist damit eine junge, freche, anziehende, aber vor allem offensive, militante und wirkmächtige Bewegung – meist in Abgrenzung zur traditionellen Friedensbewegung, die teilweise noch in der Logik der Systemauseinandersetzung während des Kalten Kriegs verfangen ist.

Wenn wir von neuer Antikriegsbewegung sprechen, dann stehen wir mittlerweile wieder am Anfang. Wir sind heute konfrontiert mit einer waffenfordernden und kriegstreibenden Bewegung gegen den russischen Krieg in der Ukraine, die quer durch linke Strukturen bis hinein in die IL Anschluss findet, aber global in einer Minderheitenposition ist. Somit ist es unsere Aufgabe, mit der Sammlung aller kritischen und emanzipatorischen Kräfte gegen diesen Bellizismus zu beginnen.

Wir versuchen das innerhalb des Bündnisses »Rheinmetall Entwaffnen«. Gleichzeitig gibt es auch bei uns in der IL keine gemeinsamen Antworten auf zentrale Fragen unserer Zeit: Was tun nach der Pandemie, der Krise des Jahrhunderts? Was haben wir zum russischen Krieg in der Ukraine, der stetigen Eskalation aus NATO-Staaten und zur Militarisierung der EU theoretisch und praktisch zu sagen? Wie kann in einer Zeit, in der Bündnisorientierung und Zusammenarbeit mit anderen großen Akteuren, aber auch die Aktionsform des Zivilen Ungehorsams erschöpft scheinen, ein neuer Bewegungszyklus initiiert werden? Welche Kämpfe erwarten uns in der kommenden Zeit?

Aber eins können wir festhalten: Die IL wurde immer von ihren Projekten getragen. Durch Heiligendamm, Castor Schottern, Blockupy und Ende Gelände hat sie Attraktivität und Mitstreiter*innen gewonnen. Im momentanen Stillstand und der Perspektivlosigkeit fehlen uns Sichtbarkeit und gemeinsame kollektive Erfahrungen. Die IL wurde durch Projekte wahrnehmbar und stark. Durch diese gab es bleibende kollektive Erfahrungen. Derzeit fehlen weitgehend solche gemeinsamen IL-Projekte. Deshalb brauchen wir wieder entsprechende Ideen und einen Aufschwung der Projekte. In diesem Sinn ist dieser Text auch ein Vorschlag mit längerfristiger Perspektive.

Vier Ausgangspunkte

Der Krieg beginnt hier. Hier werden die Waffen herstellt, die weltweit Schaden anrichten und mit denen auch gegen mutmachende und hoffnungsgebende Bewegungen wie in Chiapas oder Rojava vorgegangen wird. Damit diese emanzipatorischen Bewegungen erfolgreich sein können, kämpfen wir hier. Nach wie vor ist das richtig, was Andrea Wolf am 1. Mai 1997 in den Bergen Kurdistans in ihrem Guerilla-Tagebuch festhielt: »Ich würde mir wünschen, dass es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen würden. Einfach den Nachschub kappen. Ich weiß, es ist angesichts des Zustands in den Metropolen utopisch. Auch auf längere Zeit wird es so bleiben. Schade, das wäre was. Eine militante Bewegung, die die Kriegsmaschine lahmlegt.« So stellt sich uns die konkrete Frage, die wir gemeinsam mit anderen Akteuren beispielsweise aus der Klimabewegung praktisch beantworten müssen: Wie können wir heute die zerstörerischen herrschenden Verhältnisse effektiv angreifen und...

Wenn DIE LINKE untergeht, was reißt sie mit?

Debattenblog - Do, 03/09/2023 - 11:55

Das Verhältnis zwischen der radikalen Linken und der Linkspartei ist ambivalent. Als parlamentarischer Arm der Bewegung erfüllt sie wichtige Funktionen für unsere Arbeit und trägt unsere Anliegen im Idealfall in die Parlamente und einen bürgerlichen Diskurs. So zumindest die Idee. In der Realität wird sie diesem Anspruch selten gerecht. Was bedeutet also der Untergang der Linkspartei für uns?

Ein Text über die Partei DIE LINKE (PdL) aus radikal linker Perspektive zu schreiben ist immer ein schwieriges Unterfangen. Das Verhältnis einer radikalen Linken, die eine antagonistische Position zum bürgerlichen Staat einnimmt, und einer Partei, die sich innerhalb dieser Institutionen bewegt, ist von Widersprüchen durchzogen. Das liegt vor allem in den unterschiedlichen Systemlogiken begründet. Während z.B. die Bewegungen von der Partei zurecht verlangen, ihre Anliegen innerhalb des Staates einzubringen oder sogar umzusetzen, verfügt die Partei in vielen Fällen gar nicht über die dafür notwendige Macht. So ist eine Partei in der Opposition real recht machtlos, kann dort aber auch radikalere Positionen zum Ausdruck bringen. In einer Koalition kann sie wiederum nur durchsetzen, was auch die anderen bürgerlichen Partner mitmachen und muss im Gegenzug faule Kompromisse hinnehmen. Aus Perspektive der Bewegungen entsteht hier zwingend der Eindruck, es werde nur halbherzig von der Partei geliefert.

Darüber hinaus hängt das Überleben von Parteien davon ab, dass sie massentauglich sind, während die radikale Linke genau weiß, dass sie das oftmals nicht ist und unter den gegebenen Umständen nicht sein wird. Das ständige Schielen auf die öffentliche Meinung und der bange Blick auf Umfragen und Wahlergebnisse verhindern oftmals notwendige klare Entscheidungen, da diese zu massiven Ver-lusten führen würden. In diesem Zusammenhang ist auch der Konflikt zwischen der Partei und Teilen ihres Spitzenpersonals einzuordnen. Hier wünschen sich viele innerhalb und außerhalb der Partei eine klare Kante und letzten Endes einen Ausschluss jener Personen, die im Alleingang und gegen die Beschlüsse der Partei unhaltbare Positionen vertreten. Gleichzeitig ist klar, dass z.B. ein Parteiausschlussverfahren gegen prominente und von vielen Teilen der Bevölkerung angesehene Personen ein sehr langwieriges und schmerzhaftes Verfahren wäre, was der Partei über einen langen Zeitraum hin-weg öffentliche Konflikte, Verluste von Wähler*innen, Mitgliedern und nicht zuletzt wesentliche Strukturen samt den dazugehörigen Mitteln bedeuten würde. Daher wird dieser Schritt gescheut, nicht aus politischen, sondern primär aus strategischen Überlegungen. Gleichzeitig führt diese Unklarheit auf Dauer auch zu einem schleichenden Ausbluten der Partei und der öffentlichen Wahrnehmung der Partei als völlig zerstritten. Dies ist nur einer der Gründe für die momentane Schwäche der Partei, alle weiteren aufzuführen würde den Rahmen dieses Textes sprengen.

Es bleibt zunächst festzustellen, dass die Partei nach allen Indikatoren in einer tiefen Krise steckt. Der Zeitpunkt für diese Krise ist denkbar schlecht. Gerade jetzt bräuchte es eine starke linke Partei in den Parlamenten. Diese hätte die Aufgabe den Bewegungen dort Gehör zu verschaffen und innerhalb der Institutionen Druck aufzubauen, um längst überfällige Veränderungen anzustoßen.

Aus dieser kurzen Bestandsaufnahme ergeben sich nun eine Reihe von Fragen von denen ich drei im folgenden kurz beginnen möchte zu besprechen.

  1. Was bedeutet die Schwäche der PdL für die radikale Linke?
  2. Was...

Der 8. März und die Revolution im Iran

Debattenblog - Di, 03/07/2023 - 16:49

Mit Bahar, einer feministischen Wissenschaftlerin und Aktivistin aus der Berliner Gruppe Bolandg00 und dem Netzwerk Feminist4Jina, sprachen wir im Vorfeld des 8.März über den feministischen Kampftag im Iran und Deutschland, die Iranische Revolution und ihr Verständnis von internationaler Solidarität.

Redaktion: Hallo Bahar, wir treffen uns heute anlässlich des 8. März, um über den feministischen Kampftag, die Iranische Revolution und internationale Solidarität zu sprechen. Was bedeutet der 8. März für dich?

Bahar: Es gibt diesen bekannten Satz: »Der 8. März ist jeden Tag«. Ich versuche jeden Tag feministisch aktiv zu sein, also hat der 8. März für meinen feministischen Kampf nicht diese ganz herausragende Bedeutung. Was ich aber an dem Tag schön finde, ist diese Sichtbarkeit zu haben und zu merken, dass mit mir gemeinsam unzählige andere Personen auf die Straße gehen. Viele haben ähnliche Anliegen wie ich, andere solche, die mich weniger direkt betreffen, die ich aber unterstütze und teile. Sich gemeinsam feministisch zu organisieren und auf der Demo mitzulaufen gibt einem das Gefühl, nicht allein zu sein.

Gleichzeitig ist es aber auch ein Tag, an dem einem klar wird, was für ein Privileg es ist, sich hier in so großen Massen versammeln zu können, während der 8. März beispielsweise im Iran in einem ganz anderen Kontext stattfindet. Aktivist*innen versuchen sich natürlich auch dort zusammenzuschließen und Aktionen zu organisieren, das sind dann meistens aber kleine Gruppen, die sich dreimal verhüllen und irgendwo ein paar Fotos machen, um nicht erkannt zu werden. Wenn man sich dann vor Augen führt, mit welchem Risiko das im Vergleich zu unseren Demos verbunden ist, wird deutlich, wie unterschiedlich der 8. März begangen wird.

Welche spezifische Geschichte hat der 8. März im Iran?

Der 8. März direkt nach der Revolution 1979 war ein historischer Augenblick des feministischen Kampfs im Iran. Es war die Zeit, in der die Kleriker dabei waren sich zu etablieren und ihre Rufe nach extrem misogynen Familiengesetzen sowie dem obligatorischen Hijab immer lauter wurden. Gegen diese Politik gingen damals am 8. März Millionen Frauen auf die Straße, nicht nur in Teheran sondern in zahlreichen Städten. In letzter Zeit habe ich mir öfter die Videos von diesem Tag angeschaut. Einerseits machen sie Mut, andererseits ist es aber auch so frustrierend zu sehen, dass Frauen und feministische Kämpfer*innen vor 44 Jahren genau die gleichen Dinge einforderten wie wir heute. Sie waren es, die die Revolution mitgetragen und gegen den Schah protestiert hatten, und nur wenige Monate später wurden ihre Rechte dermaßen beschnitten. Diese Frauen wurden um ihren Beitrag in der Revolution betrogen und trotzdem - oder gerade deswegen - gingen sie auf die Straße.

Du bist in Berlin in verschiedenen politischen Gruppen aktiv. Was macht ihr als Bolandg00? Wie seid ihr entstanden? Wie seid ihr in die Proteste im Iran involviert?

Ich bin Soziologin von Beruf und würde mich als feministische Wissenschaftlerin und Aktivistin bezeichnen. Organisiert bin ich in der Gruppe Bolandg00, Bolandg00 bedeutet übersetzt Megafon. Wir sind eine Plattform mit dem Ziel, die Stimmen der Revolution im Iran zu verstärken, sie hörbar zu...

Per Volksabstimmung zur Konversion?

Debattenblog - Do, 03/02/2023 - 20:54

Die Schlinge um die Arbeiter*innen des ex-Gkn-Werks in Campi Bisenzio zieht sich zu: Seit dem 8. November 2022 hat der neue Werksinhaber Francesco Borgomeo die Zahlung des Transformationskurzarbeitergeldes ausgesetzt. Wie steht es nun um den Kampf für eine Konversion des seit über einem Jahr besetzten Autozulieferer-Betriebes in der Toskana?

Dieser Artikel ist eine Fortsetzung des Beitrags #Insorgiamo - Fabrikbesetzung für's Klima. Auch hier danken wir der Zeitschrift Luxemburg für die Ermöglichung der Zweitveröffentlichung.

»Eccolo qua il Made in Italy« (»Das hier bedeutet Made in Italy«) heißt es auf einem Banner, das an einem Wagen voller verrosteter Achswellen für Nutzfahrzeuge befestigt ist. Damit wird humorvoll auf das italienische Wirtschaftsministerium verwiesen, dem die frisch gewählte Staatschefin Giorgia Meloni ein national-protektionistisches Antlitz verliehen und welches sie zum »Ministerium für das Made in Italy« umbenannt hat. Die dem strömenden Regen überlassenen Achswellen ähneln einem wertlosen rostigen Stahlhaufen, waren einst aber das Spitzenprodukt des britischen Automobilzulieferers GKN-Driveline. Die hochwertigen, vollautomatisierten und teils noch unbenutzten Maschinen zur Herstellung der Achswellen, die diesen GKN-Standort auszeichneten, stehen bis heute in der besetzten Fabrik. Vor dem berüchtigten 9. Juli 2021, der Tag an dem der Eigentümer von GKN, der Investmentsfonds Melrose Industries, das Werk schloss, waren hier 500 Arbeiter*innen beschäftigt, davon 422 festangestellt. 330 von ihnen sind heute noch an QF, das Unternehmen des neuen Eigentümers Francesco Borgomeo, gebunden und blicken tagtäglich auf den Stahlhaufen vor »ihrem Zuhause«, wie sie die Fabrik nennen. Einer von ihnen ist Giovanni. Er hat hier 15 Jahre lang als Abteilungsleiter gearbeitet und ist einer der wenigen leitenden Angestellten, die bis heute Teil der Besetzung geblieben sind:

»Die anderen Abteilungsleiter*innen und die Facharbeiter*innen haben sehr schnell eine neue Beschäftigung gefunden. So lange ich es mir leisten kann, will ich aber hier bleiben. Für mich ist es ein moralisches Prinzip geworden.«

Für ihn steht der beunruhigende Stillstand hier in Campi Bisenzio sinnbildlich für das Versagen der gesamten italienischen Industrie:

»Es kann nicht sein, dass ein Werk mit den technologisch hochwertigsten Maschinen, das Gewinne macht, die eigene Produktion im Handumdrehen ins Ausland verlagert und der Staat und die Institutionen dies ermöglichen, ohne einen Mucks von sich zu geben. Das heißt, dass dieses Finanzsystem, Kapitalismus, wie auch immer man es nennen will, nicht für die Gemeinschaft, sondern für private Interessen funktioniert.«

Gegen diese beängstigende Situation führt das Fabrikkollektiv GKN einen seit 17 Monaten andauernden betrieblichen Abwehrkampf, woraus sich eine außergewöhnliche sozial-ökologische Mobilisierung in der Toskana und darüber hinaus entwickelt hat. Klimaaktivist*innen, Anwohner*innen, Bäuer*innen kämpfen gemeinsam mit den Arbeiter*innen für eine ökologische Umstellung der Produktion. Bis zum November 2022 konnte die Besetzung und der gesellschaftliche Kampf, den das Fabrikkollektiv anführte, auf Grundlage eines Transformationskurzarbeitergeldes geführt werden. Dies wird ihnen durch die neue Unternehmensleitung von QF nun nicht mehr ausgezahlt.

Nichts als heiße Luft

Am 23. Dezember 2021 kaufte der Unternehmer Francesco Borgomeo die Gesamtheit der GKN-Aktien dem Investmentfonds Melrose Industries ab. Er stammt aus einer reichen norditalienischen Familie, die im Laufe des 20. Jahrhunderts im Bereich der Metallverarbeitung ein Vermögen aufbaute. Francesco Borgomeo trat in...

#Insorgiamo – Fabrikbesetzung fürs Klima

Debattenblog - Di, 02/28/2023 - 17:21

Das Collettivo di Fabbrica GKN kämpft gegen die Schließung einer Zulieferfabrik der Automobilindustrie nahe Florenz. Gefordert wird ein radikaler ökologischer Umbau der Produktion. Aus dem Abwehrkampf einer einzelnen Belegschaft ist ein breites Bündnis aus Beschäftigten, Klima-Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen geworden. Wie konnte das gelingen?

Dieser Artikel erschien bereits im Oktober 2022 in der Zeitschrift Luxemburg, deren Redaktion uns freundlicherweise genehmigt hat, ihn hier zweitzuveröffentlichen.

Man stelle sich einen Klimastreik vor, bei dem 40.000 Fabrikarbeiter*innen, Klimaaktivist*innen, Friedensbewegte und politisch Unorganisierte zusammentreffen. In ihren Reden skandalisieren sie die Schließung eines Autozulieferer-Betriebes. Alle sind sich einig, dass man eine Konversion des Betriebes statt Entlassungen braucht. Im vordersten Block laufen die Arbeiter*innen der betroffenen Fabrik, hinter ihnen Massen von kämpferischen Klimaaktivist*innen und spontanen Demobesucher*innen. Die Beschäftigten des Werkes schließen sich mit Wissenschaftler*innen zusammen, um einen Konversionsplan zu entwickeln. Abgeleitet aus ihren Fähigkeiten und den neuesten umweltwissenschaftlichen Erkenntnissen entsteht die Vision, von nun an Bestandteile für wasserstoffbetriebene Busse herzustellen. Immer mehr Menschen sind sich einig: Eine Produktion für die Menschen, nicht für die Profite muss her!

Diese Vision, die am Ende eines ökosozialistischen Manifestes stehen könnte, ist im letzten Jahr in der Toskana Realität geworden. Nachdem die 422 Festangestellten und ca. 80 Leiharbeiter*innen des Automobilzulieferers GKN Driveline am 9. Juli 2021 per E-Mail mitgeteilt bekamen, dass sie am kommenden Montag nicht mehr zur Arbeit erscheinen sollten, besetzten sie ihr Werk in Campi Bisenzio, einem Vorort von Florenz. Strategisches Zentrum der Besetzung und der um sie herum entstandenen Mobilisierungswelle ist das Fabrikkollektiv Collettivo di Fabbrica GKN, das autonom, aber eng verbunden mit den offiziellen Gewerkschaftsstrukturen agiert. Die Mehrheit der gut 500 Arbeiter*innen inklusive der in der CGIL-FIOM organisierten Betriebsräte verstehen sich als Teil des Kollektivs, das sich außerhalb der Arbeitszeiten trifft. Die FIOM (Federazione Impiegati Operai Metallurgici) ist die Gewerkschaft der Arbeiter*innen in metallverarbeitenden Betrieben, die dem Allgemeinen Italienischen Gewerkschaftsbund (CGIL) angehört.

GKN ist ein Automobilzulieferer mit mehr als 50 Produktionsstätten auf der ganzen Welt. Bis zum Produktionsstopp im Sommer 2021 wurden im Werk in Campi Bisenzio hauptsächlich Achswellen für Fiat (Ducato), Maserati und Ferrari hergestellt. Die Inhaber des Werkes haben in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewechselt. Einst im Besitz von Fiat, wurde das Werk im Jahr 1994 von dem Unternehmen GKN erworben, das wiederum 2018 vom britischen Investmentfonds Melrose Industries für 8 Mrd. aufgekauft wurde. Nur drei Jahre später verkündete die Geschäftsführung nun die Schließung des Werks in Campi Bisenzio und die Entlassung der gesamten Belegschaft, wurde drei Tage zuvor das Entlassungsverbot aufgehoben, das die italienische Regierung im Rahmen der Corona-Pandemie beschlossen hatte. Der Grund ist keineswegs eine Krise des Unternehmens. Unmittelbar vor der Schließung wurde noch in hochwertige Roboter investiert, die bis heute eingeschweißt im besetzten Werk stehen (vgl. Cini u. a. 2022, 5). Es handelt sich bei der Schließung vielmehr um einen »Teil des Prozesses der Finanzialisierung von Unternehmen und der spekulativen Prinzipien des Shareholder-Kapitalismus«: Das einzelne Werk wird einer profitorientierten Re-Strukturierung der Wertschöpfungskette geopfert und die Produktion ins Ausland verlagert. Das Motto von Melrose Industries »Buy, Improve,...

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