Sammlung von Newsfeeds

Unser Slogan ist »Krieg dem Krieg!«

Debattenblog - Fr, 02/24/2023 - 17:41

Für eine solidarische Antwort auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine! Wie diese aussehen kann, damit setzt sich dieser Beitrag russischer Genoss*innen auseinander. Es wird nicht mit Kritik an der Linken im Westen gespart. Wir veröffentlichen diesen Text, um auch nach einem Jahr des Ukraine-Kriegs die Debatte weiter anzustoßen und mit neuen Sichtweisen zu bereichern sowie zu einer Klärung unserer Position(en) beizutragen.

Seit einem Jahr tötet das Regime von Wladimir Putin Ukrainer:innen, treibt Hunderttausende Russ:innen in den Tod und bedroht die Welt mit Atomwaffen im Namen des wahnsinnigen Ziels der Wiederherstellung des russischen Reichs. Für uns Russ:innen, die sich der Aggression und Diktatur Putins widersetzen, war es ein Jahr des Schreckens und der Schande wegen der Kriegsverbrechen, die täglich in unserem Namen begangen werden. Am Jahrestag dieses Krieges rufen wir alle, die sich für den Frieden einsetzen, auf, gegen Putins Invasion zu demonstrieren. Es ist bedauerlich, dass nicht alle Demonstrationen »für den Frieden«, die in diesen Tagen stattfinden werden, Aktionen der Solidarität mit der Ukraine sein werden. Ein großer Teil der Linken im Westen versteht das Wesen dieses Krieges nicht und zieht den Kompromiss mit dem Putinismus vor. Wir haben diesen Text verfasst, um unseren Genoss:innen im Ausland zu helfen, die Situation zu verstehen und die richtige Haltung einzunehmen.

Konterrevolutionärer Krieg

Einige westliche Autor:innen sehen die Ursachen des Krieges im Zusammenbruch der UdSSR, in der widersprüchlichen Geschichte der ukrainischen Nationsbildung und in der geopolitischen Konfrontation der Atommächte. Ohne die Bedeutung dieser Faktoren in Abrede stellen zu wollen, sind wir doch überrascht, dass der wichtigste und offensichtlichste Grund für die Ereignisse nicht auf der Liste steht: der Wille des Putin-Regimes, demokratische Protestbewegungen in der ehemaligen Sowjetunion und in Russland selbst zu unterdrücken. Die Einnahme der Krim und der Ausbruch der Feindseligkeiten im Donbass im Jahr 2014 waren die Antwort des Kremls auf die „Revolution der Würde« in der Ukraine, die die korrupte pro-russische Regierung von Wiktor Janukowitsch stürzte, und auf die Massendemonstrationen von Russ:innen für faire Wahlen in den Jahren 2011 bis 2012, bekannt als die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz. Die Annexion der Halbinsel war für Putin ein innenpolitischer Triumph. Er nutzte erfolgreich revanchistische, antiwestliche und traditionalistische Rhetorik (sowie Repression), um seine gesellschaftliche Basis zu verbreitern, die Opposition zu isolieren und die Bevölkerung mit den Folgen des »Maidans« zu verängstigen. Der »Krim-Effekt« war jedoch nur von kurzer Dauer: Ende der 2010er Jahre ließen die wirtschaftliche Stagnation, die unpopuläre Rentenreform und die medienwirksamen Anti-Korruptions-Enthüllungen von Nawalnys Team die Umfragewerte Putins wieder sinken, vor allem bei jungen Menschen. Proteste erschüttern erneut das Land und die Regierungspartei »Einiges Russland« musste bei den Regionalwahlen eine Reihe empfindlicher Niederlagen einstecken.

Unter diesen Umständen setzte der Kreml alles auf den Erhalt des Regimes. Das Verfassungsplebiszit 2020, das selbst für russische Verhältnisse beispiellose Fälschungen erforderte, machte Putin zum Herrscher auf Lebenszeit. Unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung wurden schließlich Demonstrationen verboten und einer der Führer:innen der außerparlamentarischen Opposition, Alexej Nawalny, überlebte nur knapp einen Giftanschlag. Der Volksaufstand in Belarus im Sommer 2020 bestätigte die russische Elite in ihrer Überzeugung, der...

Klassenkampf für die ökologisch-soziale Revolution

Debattenblog - Mo, 02/13/2023 - 17:01

Im Februar hat in Frankfurt das Treffen des Transnational Social Strike stattgefunden. Dort wurde auch die Frage diskutiert, wie Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung mit Arbeiter*innen einen gemeinsamen Kampf führen können. Zur Vorbereitung wurde ein Journal verschiedener Stimmen aus Europa veröffentlicht. Den Text der IL wollen wir hier dokumentieren.

Die Herausforderungen gemeinsamer Kämpfe

Deutschland ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch stark industrialisiert. Die Produktion dieser Industrien hängt von billigen Rohstoffen und billiger Energie ab. Die Arbeitsplätze sind gut bezahlt, auch weil dort noch viele Arbeiter*innen gewerkschaftlich organisiert sind. Seit Mitte der 1970er wurden in Westdeutschland und seit den 1990ern besonders stark in Ostdeutschland Industriebetriebe abgebaut und in den Globalen Süden verlagert. Zurück blieben abgehängte Regionen mit starker endemischer Arbeitslosigkeit sowie Armut.

Besonders in den noch bestehenden Kohlerevieren gibt es den starken Konflikt zwischen den Interessen der Beschäftigten und den notwendigen Aktionen gegen die Klimakrise. Viele Arbeiter*innen haben das Schicksal des Kohleausstiegs im Ruhrgebiet oder die Verheerungen der Treuhand in Ostdeutschland vor Augen. Dort fand kein Strukturwandel, keine Transformation statt. Deshalb gehören das Ruhrgebiet und Teile Ostdeutschland zu den ärmsten Regionen Deutschlands.

Für die richtigen und notwendigen Aktionen gegen den Kohleabbau ergeben sich daher Probleme. Es gibt den Konflikt Kohleausstieg vs. Joberhalt. Die Arbeiter*innen haben verständlicherweise Angst um ihre Zukunft. Gerade in den strukturschwachen Regionen ist es selten, einen gutbezahlten Job oder überhaupt einen Job zu haben. Bei Jobverlust bleibt die Wahl zwischen Armut und Wegzug.

Es müssen sich aber auch andere Industrien auf Änderungen einstellen. Die Kapitalfraktion versucht ihre Profite und Herrschaft zu schützen. Die Alternative in den Bereichen Chemie, Automobil und Agrarwirtschaft heißt grüne Transformation. Dabei geht es aber im Wesentlichen bloß um ein Weiter-so in Grün. Für die Automobilindustrie soll nur der Antrieb gewechselt werden – eine Verkehrswende ist nicht geplant. Plastik soll nicht eingespart, sondern durch nachwachsende Rohstoffe ersetzt werden. Und das Agrarbusiness setzt weiter auf die industrialisierte Landwirtschaft mit synthetischen Düngern, Gentechnik und Bodenkonzentration. Die Ängste der Arbeiter*innen werden aber auch von rechten Parteien und Nazis genutzt. Sie stellen sich als vermeintliche Anwält*innen der »kleinen Leute« dar. Sie leugnen die menschengemachte Klimakrise. Stattdessen verbreiten sie die Lüge, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Rechte und Nazis stellen Klimagerechtigkeit als Verschwörung gegen die »hart arbeitende Bevölkerung« dar. Gepaart mit Angriffen auf eine vermeintliche Elite und ihre globalisierte Politik sprechen sie die Ressentiments der Bevölkerung an und und schüren antisemitisch und rassistische Vorurteile. Ihr Ziel ist der bürgerliche Faschismus 2.0.

Die Stimmungsmache hat bereits dazu geführt, dass Aktionen von Ende Gelände in Ostdeutschland eine antifaschistische Schutzstruktur benötigen. Auch Aktionen gegen Straßenausbau werden angegriffen. In den westdeutschen Braunkohlerevieren kommt es auch vermehrt zu Angriffen und Aktionen von Rechten. Aber auch Gewerkschaften und ihre Mitglieder haben schon gegen Orte der Klimagerechtigkeit demonstriert und Aktivist*innen bedroht. In dieser Gemengelage ist es schwer, die Frage zu beantworten, wie wir Belegschaften und die Bewegung zusammenbringen, um gemeinsam für eine sozial und ökologisch gerechte Zukunft zu streiten. Trotzdem ist es wichtig hier auf diejenigen zuzugehen, welche die Dringlichkeit des Handelns erkannt haben....

Machen wir uns die Hände schmutzig!

Debattenblog - Di, 01/31/2023 - 19:36

Die Überbetonung der Polizeigewalt in unserer eigenen Öffentlichkeitsarbeit im Nachhinein zu Lützerath war ein Fehler. Als radikale Linke sollten wir viel eher betonen, dass der Staat in die Defensive gekommen ist und wir gemeinsam mit Vielen Militanz erprobt haben, argumentiert die IL Frankfurt.

Alle, die in Lützerath waren, und alle, die die Schlammschlacht nur aus der Ferne verfolgten, wissen: Es war letztlich die staatliche Gewalt in Form der Polizei, in Übereinstimmung mit den privatwirtschaftlichen Interessen von RWE, die uns daran hinderte, den Genoss*innen in Lützerath zu Hilfe zu kommen. Wir selbst haben dafür in unserer Pressearbeit im Nachhinein gesorgt, dass an den Bildern der vorwärtsstürmenden Bullen niemand vorbeikam. Damit haben wir einen Fehler begangen, eine Chance verpasst und uns selbst in den Tagen danach einem schalen Gefühl der Niedergeschlagenheit ausgesetzt.

Lützerath - eine Niederlage?

Ja, objektiv betrachtet war der Samstag in Lützerath eine Niederlage. Es ist uns nicht gelungen, den Zaun zu überwinden, die angegriffene Besetzung im Dorf auszuweiten und damit den faulen Kohlekompromiss materiell infrage zu stellen. Subjektiv gesehen jedoch − ausgehend von denen, die kämpfen − hat sich an diesem Tag und darüber hinaus etwas verschoben. Man lässt sich schlichtweg nicht mehr alles gefallen und ist bereit, Militanz tatsächlich zu erproben. Wir alle wissen daher noch etwas Weiteres: Den größten Teil des Tages lief der Staat rückwärts, er zog sich immer weiter an den Zaun zurück und konnte uns nichts als seine eruptiven Gewaltausbrüche entgegensetzen. Nur die militärisch abgesicherte Einfriedung des Dorfes hat uns daran gehindert, die Bullen und RWE aus Lützerath zu vertreiben. Angesichts der Entschlossenheit der Menschenmengen und dem Regen an Schlamm, Steinen und Pyro, blieb ihnen nichts als der Rückzug zum Zaun und die offensiven Prügelattacken, mit denen sie sich kurzzeitig zehn Meter Spielraum verschafften.

Über den ganzen Tag hinweg gab es immer wieder Momente, in denen es keine hohle Phrase mehr war, dass die Angst die Seite gewechselt hat. Allein zahlenmäßig waren wir den Bullen so überlegen, dass sie uns weder vom Zaun um das Dorf herum fernhalten konnten, noch Anstalten machten, Einzelne in großer Zahl herauszuziehen und zu verhaften. Es ergab sich eine Situation, in der es möglich war, dass die einen, unorganisierte Menschen aller Altersgruppen, spontan von der NGO-Demonstration in Richtung Lützerath liefen und dabei - ohne organisierte Fingerstrukturen - teilweise sogar Polizeiketten durchbrachen. Die anderen warfen mit Matsch auf die Bullen und schlugen bei den Prügelattacken zurück, wieder andere ließen Steine und Pyro fliegen. Auch wenn nicht alle dasselbe gemacht haben und sicher auch nicht alle Menschen jedes Mittel gleich gut fanden, zeigte sich eine breite Entschlossenheit auf den Äckern, an den Zaun zu kommen. Dieses Moment der Ermächtigung im Ereignis ist nicht das letzte Ziel linksradikaler Politik, darf aber auch nicht unterschätzt, geschweige denn in der eigenen Nachbereitung verschwiegen werden. Den Augenblick, in dem viele um uns herum die Angst verloren und alles Verfügbare in die Hand nahmen, um in die Offensive zu gehen und die Bullen zurückzudrängen, werden wir und viele andere nicht vergessen. Darüber sollten wir nicht schweigen....

Gas und Inflation

Debattenblog - Do, 01/26/2023 - 14:21

Der Versuch linker Akteur:innen, einen »heißen« Herbst zu initiieren, scheiterte. Unseres Erachtens liegt das nicht zuletzt daran, dass die gesellschaftliche Linke weder eine profunde Analyse noch eine überzeugende Handlungsperspektive abseits von Demos »für mehr staatliche Unterstützung« anzubieten hatte – in Österreich und Deutschland gleichermaßen. Wir greifen im Folgenden drei wesentliche Argumente anderer heraus, um daraus zwei Schlussfolgerungen für uns zu ziehen und runden den Text mit einem Aufruf ab, sich an der Mobilisierung zum »Gas-Gipfel« im März 2023 in Wien zu beteiligen.

Warum steigen die Preise so massiv?

Am 24. Februar 2022 hat mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine eine imperiale Auseinandersetzung um den Machteinfluss Russlands auf die Ukraine begonnen. Energie und vor allem Gas sind in diesem Krieg zu einer Waffe geworden, denn die Gaslieferungen sind eines der wichtigsten Instrumente des russischen Einflusses. Dies ist zunächst eine Erkenntnis, welche die gesellschaftliche Linke mit einer ganzen Reihe bürgerlicher Kräfte teilt. Doch alleine stehend ist sie verkürzt: Die Aufgabe der Linken ist es, diese Knappheit als von der wachsenden Wirtschaft getriebene sichtbar zu machen.

Das bedeutet erstens anzuerkennen, dass diese Knappheit trotz aktuell gefüllter Speicher real ist: Die derzeitige Energienachfrage übersteigt das Angebot. Neben dem Krieg ist dies aber auch auf die gestiegene Energienachfrage durch wieder anlaufendes Wirtschaftswachstum nach 2 Jahren Pandemie zurückzuführen. Der kriegsstrategische Einsatz der Gasressourcen von russischer Seite, zusammen mit den Sanktionen gegen Russland, trieben die Anfang 2022 ohnehin schon deutlich gestiegenen Energiepreise noch weiter nach oben.

Zweitens ist (in Ö) spätestens mit der kurzzeitigen Fast-Pleite von Wien Energie (2022), immerhin einem städtischen Energieversorger des »roten« Wiens, deutlich geworden, dass der Kauf und Verkauf von Gas für die Strom- und Wärmeversorgung extrem undurchsichtig abgewickelt wird. Nach Angaben des Unternehmen, der Stadt und »den Expert:innen« sei nur durch die Börsengeschäfte, die der Grund für die Fast-Pleite waren, überhaupt Preisstabilität für die Endkund:innen zu gewährleisten. Wir fragen uns: wollt ihr uns verarschen? Energie ist ein Grundbedürfnis, kein gewinnorientiertes Geschäft. Der Kauf und Verkauf von Energie auf dem Weltmarkt und die auf europäischer Ebene beschlossenen Marktliberalisierungen führen weder zu preiswerter noch zu sicherer Versorgung, sondern zu steigenden und noch dazu äußerst prekären Preisen. Mit einer einhundertprozentigen Liberalisierung des Strommarktes – also dem mehr oder weniger unkontrollierten Marktgeschäft mit Energie – gehörte Österreich unter Schwarz-Blau I zu den absoluten Vorreitern der Marktliberalisierung im Energiesektor. Bei dieser Liberalisierung handelte es sich um die Umsetzung einer Vorgabe der EU-Kommission, die von Österreich in der Ära Schüssel aktiv mit vorangetrieben wurde. Diese besagt, dass mindestens 30% des Strommarktes liberalisiert sein muss; aber warum nur 30 % liberalisieren, wenn wir doch 100% der Stromversorgung der Gesetzes des Marktes unterwerfen können, dachte sich die damalige Bundesregierung. Zu dieser Liberalisierungsstrategie gehörte auch, dass Stromerzeugung, Netztrieb und Stromlieferung organisatorisch getrennt sind und somit drei – allesamt gewinnorientierten – Bereiche miteinander handeln. Die Folge dieser Marktliberalisierung wird in der heutigen Situation realer Knappheit sichtbar – und auch nicht: Ehemals staatliche Netzbetreiber wie Wien Energie sind heute Aktiengesellschaften und damit rechtlich verpflichtet, profitorientiert zu wirtschaften. Genau dieser Fakt geht...

Die vierte Internet Revolution passiert jetzt

Debattenblog - Di, 01/17/2023 - 10:13

Die Welle um Twitter scheint sich kurzzeitig wieder gelegt zu haben und damit auch der Hype um Mastodon. Trotzdem: Da bekam das erste Mal eine Alternative zu Coporate Social Media weltweit riesige Aufmerksamkeit. Ein Zeitfenster, das wir nutzen sollten! Die Hintergründe liefern wir euch hier.

Der folgende Text wurde zuerst am 20. November 2022 auf keimform.de veröffentlicht. Wir haben uns entschlossen, ihn in überarbeiteter Form in den Debattenblog aufzunehmen, da wir ihn für einen interessanten Diskussionsbeitrag (inkl. Hintergrundinformationen über Mastodon) halten. Wir haben mit Zustimmung des Autors einige kleinere unautorisierte Kürzungen und Erläuterungen vorgenommen, die jedoch die politische Stoßrichtung des Artikels beibehalten. Wir empfehlen den technikinteressierten Leser*innen, bei Bedarf selbst weiter zu recherchieren. – Eure Blogredaktion.

Eine kurze Geschichte des Internets

Bekanntlich rennt die Zeit im Internet schneller als anderswo. Was eben noch Gewissheit war, ist jetzt schon überholt. Ein Trend jagt den nächsten. Doch grob lässt sich die Geschichte des jungen Mediums in drei Phasen oder »Revolutionen« einteilen. Diese Umbrüche korrespondieren mit den historischen Umbrüchen, die mehr oder weniger gleichzeitig in der größeren Welt »draußen« passierten.

Das Internet kam zusammen mit der 68er-Revolution in die Welt, als ein Medium für eine sehr kleine Technikelite. Damals war es für die meisten Menschen genauso unzugänglich wie ein Teilchenbeschleuniger. Im Laufe der Jahre verbesserte sich die Zugänglichkeit dann etwas auf das Niveau von Universitätsbibliotheken. Doch von Anfang an waren viele kulturelle Normen des Netzes ähnlich denen der 68er. Aus dieser Verbindung von Hippiekultur und Technikelite sollte sich später dann die sogenannte »Californian Ideology« (Barbrook/Cameron) entwickeln.

Ein Phänomen für breite Bevölkerungsschichten wurde das neue Medium erst, als sich persönliche Computer (PC) verbreiteten, Telekommunikationsunternehmen begannen, günstige Anschlüsse zu verkaufen, und an einem der erwähnten Teilchenbeschleuniger das WWW erfunden wurde. All das ermöglichte eine ganz neue Art der Präsentation und des Zugangs. Das war die zweite Internetrevolution. »Draußen«, in der weiteren Welt, fand der kalte Krieg sein Ende und der Neoliberalismus begann seinen Siegeszug. Währenddessen erschien das Neuland« (Merkel) als eine »blühende Landschaft« (Helmut Kohl), in der vergleichsweise unreguliert ganze Branchen umgekrempelt wurden und sogar erste zarte Pflänzchen einer ganz neuen Produktionsweise (Wikipedia, Linux, Open Source …) entstanden.

Doch mit dem Beginn des »Kriegs gegen den Terror« drehte sich der Wind. Die dritte Internetrevolution war eine Konterrevolution. Das Netz wurde stärker reguliert, überwacht und eingehegt. Staat und Kapital arbeiteten dabei Hand in Hand in einer ähnlichen Bewegung, wie sie seit dem 17. Jahrhundert überall geschieht, wo Kapitalismus ist: Enclosure of the Commons. Während staatliche Institutionen das Internet regulierten und überwachten, übernahmen die neuen Techkonzerne, die den Kollaps der New Economy überlebt hatten, das Aufbauen der Zäune um die Datengärten und katapultierten sich damit innerhalb weniger Jahre in die Spitzenklasse der kapitalistischen Wertschöpfung.

Corporate Social Media: Die kapitalistische Wertschöpfung beginnt

Ein zentraler Mechanismus, um die neuen Commons in ihre Schranken zu weisen, war die Erfindung von Corporate Social Media. Es gelang den Konzernen, die Beziehungen der Menschen zu monetarisieren. Sie bauten einen goldenen Käfig für sie, der es ihnen einfach wie nie zuvor machte,...

Bewegungslinke, Anarchismus und (Anti-)Politik

Debattenblog - Di, 01/10/2023 - 11:07

Jonathan Eibisch argumentiert für ein bewusstes Einmischen organisierter Anarchist*innen in die Bewegungslinke. Die anarchistische Ideen der (Anti-)Politik soll so ein stärkeres Gewicht in der strategischen Debatte erhalten. Außerdem gibt er einen interessanten Überblick hinsichtlich anarchistischer Gedanken und Kritiken an der Bewegungslinken.

Mit dem folgenden Beitrag möchte ich eine kritische Debatte über unser Politikverständnis anregen, über das Verhältnis von Anarchismus und Bewegungslinke reflektieren und auf meine Tätigkeiten hinweisen. Politik aus anarchistischer Perspektive zu verstehen, kann dazu beitragen, die Diskussion über unsere Strategien und Praktiken zu erweitern. Dazu gilt es, sich die ambivalente Ablehnung von Politik und die Bezugnahme auf sie durch Anarchist*innen anzuschauen, welche sich anders gestaltet als bei linksradikalen Strömungen. Seit vielen Jahren verstehe mich selbst als Anarchist und habe an einigen Ereignissen teilgenommen, zu welchen auch die IL mobilisiert hatte. Darunter waren die Proteste gegen den Naziaufmarsch in Dresden, COP15, Castor Schottern, Blockupy und den G20-Gipfel. Auch wenn sich der Schwerpunkt meiner Aktivitäten inzwischen verändert hat, bin ich weiterhin der Ansicht, dass grundlegender Wandel nur durch Druck auf der Straße, vielfältige direkte Aktionen und selbstorganisierte Basisarbeit gelingen kann.

Anarchist*innen und die Bewegungslinke

In bewegungslinken Gruppierungen und Netzwerken finden sich Personen zusammen, welche sich in den drei Hauptströmungen des Sozialismus verorten lassen: Sozialdemokratie, Parteikommunismus und Anarchismus. Statt vorrangig um ideologische Positionen zu ringen, wie in Gruppen, welche sich nach ihrer Gesinnung zusammenfinden, oder um Programme, Posten und die Wähler*innengunst in Parteien, steht in Gruppen der Bewegungslinken die gemeinsame Aktion im Vordergrund. Auch wenn Kontroversen keineswegs ausbleiben, schafft dies die Grundlage für die Zusammenarbeit von Personen, welche von unterschiedlichen Strömungen geprägt sind. Dies ist begrüßenswert, wenn die Einsicht darin besteht, dass umfassende Gesellschaftstransformation zwar nicht durch die anzuführenden Massen gelingen kann, wohl aber der unterschiedlichen Vielen bedarf, die sich verbünden.

Es gibt wenige Personen, die sich als Anarchistinnen verstehen und bei der IL organisiert sind. Häufiger aber kommt es vor, dass anarchistische Zusammenhänge sich an Aktionen der Bewegungslinken beteiligen und dennoch einen gewissen Abstand zu ihr wahren. Und dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: Erstens sind Anarchistinnen der Adressierung von Massen gegenüber skeptisch, weil diese oftmals eher lethargisch wirken, als dass sie Spontaneität entstehen lassen. Auch Aktionen, die auf eine große Zahl von Menschen setzen, können demnach nur so gut funktionieren und emanzipatorisch wirken, wie jene, die sich an ihr beteiligen in Bezugsgruppen organisiert sind und sich auch im Alltag organisieren. Zweitens kritisieren Anarchistinnen die Symbolpolitik, welche teilweise in Aktionen zivilen Ungehorsams bedient und gefördert wurden. Vor allem auf die mediale Wirksamkeit zu setzen, erzeugt noch keine Gegenmacht. Drittens wird eine Kritik an dem Ereignis des Massenprotestes geübt. Wenn dieser vor allem als spektakuläres Erleben schmackhaft gemacht wird, um Menschen dafür zu mobilisieren, kann er nicht nachhaltig und tiefgreifend sein. Ein vierter Punkt betrifft die teilweise intransparente Weise, wie Aktionskonsense zu Stande kommen und kommuniziert werden. Dies verweist auch auf Hierarchien im Hintergrund, wie sie freilich auch in anarchistischen Organisationen bestehen. Fünftens wird das „Bewegungs-Management“ als problematisch erachtet, in welchem professionelle Strateginnen sich beispielsweise anmaßen, bestimmte Ausdrucksformen vorab...

Kapitalkonformes Ich

Debattenblog - Fr, 12/30/2022 - 19:28

Das neoliberale Akkumulationsregime des digitalen Kapitalismus hat einen neuen Subjekttypen erzeugt – das sorgt auch innerhalb der radikalen Linken für Probleme. Zehn Thesen.

Der Text ist die schriftliche Ausarbeitung eines Vortrags, der im Juli 2021 auf einer bewegungsnahen, internen „Tagung über die Krise der Interventionistischen Linken (IL) und der radikalen Linken“ gehalten wurde. Die Analyse resultiert aus Erfahrungen, wie Individuen im modernen Kapitalismus agieren, die auch in der Linken immer häufiger zu beobachten sind. Der Text erschien im März 2022 bereits in der Jungen Welt sowie in einer langen Variante in der Tagungsdokumentation mit dem Titel „Die IL läuft Gefahr, Geschichte geworden zu sein“. Eine Bestellungen dieser insgesamt 100-seitigen Broschüre ist über die Mailadresse tagung_punkt@riseup.net möglich.

Das neoliberale Subjekt für das neue Akkumulationsregime im Digitalen Kapitalismus

Wir sind der Meinung, dass es eine tiefgreifende Krise der Linken gibt, die wir in ihrem Ausmaß noch nicht erfasst haben. Corona hat wie ein Brennglas sichtbar gemacht, wie unsere Gesellschaft von den herrschenden Eliten gestaltet wurde. Die Linke hat sich zum großen Teil während der Pandemie weggeduckt, ohne gesellschaftliche Widersprüche aufzuzeigen. Stattdessen war und ist sie im Gefolge autoritärer Zurichtung der Menschen letztlich »artiger« und folgsamer geworden. Ein Desaster. Das hat, so unsere Beobachtung, auch etwas damit zu tun, wie das neoliberale Subjekt und insbesondere das linke Subjekt im Neoliberalismus »tickt«.

Wir gehen im Folgenden davon aus, dass jede kapitalistische »Etappe« ein spezifisches Subjekt braucht, um erfolgreich die ökonomische Organisation und Reproduktion zu gewährleisten, die im Kapitalismus Profit abwerfen muss. Wir vertreten im folgenden Beitrag die These, dass die Ablösung des Fordismus durch den Postfordismus bzw. Neoliberalismus seit den 1970er Jahren eben in dieser Weise einen Wandel der ausbeutbaren Subjekte verlangte. Eine andere Produktionsweise verlangt andere Subjekte. Unter dem Begriff der Postmoderne lassen sich die Merkmale seit den 1980er Jahren beschreiben, zeigen aber jetzt erst ihre volle Entfaltung.

Die Einziehung neoliberaler Subjektivierung passiert natürlich nicht einfach so als Naturgesetz. Seit dem Jahr 2000 machten Konzepte der SPD vom »Lebenslangen Lernen« die Runde. Dann kam der sogenannte Bolognaprozess, die EU-einheitliche »Bildungsreform«, die zum Ziel hatte, Schulen und Universitäten ganz nach den Bedürfnissen des aktuellen Kapitalismus auszurichten. Der Umbau des Universitätswesens ist abgeschlossen. Von der Universität ist, von Ausnahmen abgesehen, keine Gesellschaftskritik mehr zu erwarten. Die moderne Sachbearbeiterin der Zukunft hat ein Studium in Kommunikationswissenschaften komplett inhaltsleer absolviert und lebt im Bewusstsein, am Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu sein. Ihr Arbeitsplatz ist beliebig, ihre Qualifikation rein formal, sie muss kompetent und professionell sein, das reicht. Das Kompetenzmodell ist in allen europäischen Staaten vorherrschend.

Die Standardisierung im pädagogischen Bereich lässt sich seit den 1990er Jahren beobachten. Im Interesse angeblich größerer Transparenz, angeglichener Qualitätsstandards, die für mehr Vergleichbarkeit und damit mehr Gerechtigkeit sorgen sollten, wurde die »Professionalisierung« vorangetrieben. Wichtiges Instrument war und ist immer noch die sogenannte Steuerungsgruppe. Das Kind wird zum Objekt einer perfekten Bildung, deren Umfeld adäquat organisiert sein muss: Das Umfeld entscheidet über eine gute Entwicklung. Dass dies ein Einfallstor ist für kommerzielle Interessen, liegt auf der Hand. Krippe, Kindergarten, Hort werden entsprechend umbenannt in Familienzentrum,...

Debatte: Krise der radikalen Linken

Debattenblog - Fr, 12/30/2022 - 19:28

Ob Corona, Klima oder der Krieg in der Ukraine: Die radikale Linke scheint von den Vielfachkrisen des Neoliberalismus überwältigt worden zu sein und steht mittlerweile weitgehend bewegungslos neben ihnen. Obwohl in einzelnen Teilbewegungen noch Aktivität zu vernehmen ist, und Klimastreiks Millionen Menschen auf die Straße bringen, steht es schlecht um die radikale Linke in der BRD.

Nach anfänglichem Streit um Waffenlieferungen wird zum Krieg geschwiegen. Die größte Krise der letzten Jahre, die Corona-Pandemie, hat sich weder in Protest noch in kollektiver Organisierung, sondern in Vereinzelung und Resignation. Und auch die Bewegungen gegen rassistische Polizeigewalt oder die Klimabewegung scheinen in relevanten Teilen zum Erliegen zu kommen. Aber der Pandemie alleine die Schuld an der Krise der Linken zu geben, scheint nicht ausreichend. Daher müssen wir uns fragen: Welche Ursachen hat die aktuelle Krise der radikalen, und auch gesellschaftlichen, Linken? Was drückt sie genau aus? Und: wie kann eine Strategie aussehen und da eigentlich rauszukommen - Wie sieht unsere Perspektive aus? oder polemisch gesagt: Sind Volksentscheide der revolutionäre Weg zur Vergesellschaftung von Wohnraum oder parlamentarisches Theater? Fehlt es der radikalen Linken an militanter Subjektivität oder an gesellschaftlicher Verankerung?

Um diesen und vielen weiteren Fragen nachzugehen, suchen wir als Debattenblog wieder spannende Texte. Der genauen Themenwahl sind euch dabei quasi keine Grenzen gesetzt – ob die Verknüpfung zu ökonomischen Umbauprozessen, zu Organisierungstendenzen oder den ideologischen Einfluss des Neoliberalismus – dies sind nur wenige Ideen, die wir uns vorstellen können.

Wir rufen Euch als Einzelpersonen und Gruppen – aus der IL und aus dem Kreise unserer Freund*innen und Kritiker*innen – auf, Euch an der Debatte zu beteiligen und uns Eure Artikel-Vorschläge zu schicken. Ihr erreicht uns unter blog@interventionistische-linke.org. Wir freuen uns auf eine spannende Diskussion!

#unteilbar ist Geschichte, #Unteilbarkeit bleibt!?

Debattenblog - Sa, 12/24/2022 - 15:24

Am 14. Oktober 2022 hat sich das #unteilbar Bündnis mit einer internen Abendveranstaltung aufgelöst – fast auf den Tag genau vier Jahre nachdem es am 13. Oktober 2018 in Berlin völlig überraschend 242.000 Menschen für eine offene und freie Gesellschaft auf die Straße gebracht hat. Zwei Aktivist*innen der iL, die das Bündnis mitgestaltet haben, ziehen Bilanz.

2018: Der Pol der Solidarität findet einen Ausdruck

2018 war die Bewegungssituation zunächst durch eine Defensive der gesellschaftlichen Linken geprägt, die auf den Sommer der Migration 2015 gefolgt ist. Eine migrationsfeindliche Flächenmobilisierung und Welle rassistischer Gewalt war zum Schrittmacher der politischen Entwicklung geworden. Es gab zwar mit der Selbstorganisierung von Geflüchteten und den Willkommensinitiativen auch Organisierung und Solidarität von Unten, diesen fehlte aber bislang ein starker politischer Ausdruck. In der Folge waren antirassistische Bewegungen und die gesellschaftliche Linke kaum mehr als Zaungäste, während ein Asylpaket das nächste jagte.

Das änderte sich 2018: Am 29. September 2018 nahmen 25.00 Menschen an der We’ll come United Parade in Hamburg teil; im Rahmen der Seebrücke gründeten sich im Sommer in zahlreichen, auch kleineren Städten neue Initiativen; in NRW und Bayern gab es starke Proteste gegen neue repressive Polizeigesetze; bei #ausgehetzt demonstrierten in München am 22. Juli 50.000 Menschen gegen die rhetorische Brandstiftung der CSU; am 06 Oktober verwandelten 50.000 Menschen den Hambacher Forst in das Wendland der Anti-Kohle-Bewegung; bereits im April waren 25.000 in Berlin gegen den Mietenwahnsinn auf die Straße gegangen. Es war also viel los auf den Straßen.

Ein Fanal für die #unteilbar-Mobilisierung war die Hetzjagd von Chemnitz im August 2018. Der offene Schulterschluss der AfD mit der faschistischen Rechten und die Leugnung der rassistischen Gewalt durch den damaligen VS-Präsidenten Hans-Georg Maaßen wurden für viele zu einem Symbol, dass die gesamte Gesellschaft nach rechts zu kippen drohte. Nur aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren erklärt sich, dass mehr oder weniger zufällig die vom RAV (Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein) initiierte #unteilbar-Mobilisierung im Herbst 2018 den Nagel auf den Kopf traf. Sie verlieh sowohl dem bisher viel zu selten artikulierten Pol der Solidarität, als auch der verbreiteten Angst vor dem rechten Durchmarsch einen Ausdruck. Zentraler Claim des Bündnisses war es, Migration und die soziale Frage nicht gegeneinander ausspielen zu lassen.

unteilbar war damit der unausgesprochene Gegenentwurf zum sozialkonservativen Aufstehen-Projekt, das Sahra Wagenknecht & Co im August 2018 lanciert hatten. Das Scheitern von #Aufstehen steht prominent und exemplarisch für den mäßigen Erfolg des Versuchs verschiedener politischer Akteure, eine neue migrationsfeindliche Spaltungslinie zu ziehen. All jenen, die sich gegen diese Spaltungslinie stemmten, entschieden den Rücken gestärkt zu haben, ist wohl der größte Erfolg des #unteilbar-Bündnisses. Entgegen dieser Spaltungen hat #unteilbar eine neue Sprache und Praxis für die Verbindung von Kämpfen gefunden.

2019ff: Netzwerk des solidarischen Ostens

unteilbar konnte Mobilisierungserfolge immer in Augenblicken der Gefahr erzielen, in denen ein Mosaik von der radikalen Linken bis zum r2g-Sprektrum im Angesicht einer drohenden Machtoption der AfD oder rechtsterroristischen Anschlägen zusammenstand. Ermöglicht wurde dieses Zusammenkommen durch ein politisches Profil, das bewusst im Ungefähren blieb und stärker auf einen Modus von Gesellschaft als auf konkrete...

Hamburg, jetzt enteignen wir!

Debattenblog - So, 11/27/2022 - 20:58

Schafft zwei, drei, viele Berlins! Der Erfolg von Deutsche Wohnen & Co. enteignen strahlt über die Hauptstadt hinaus. »Hamburg Enteignet« heißt das Schwesterprojekt an der Elbe. Die Recht-Auf-Stadt-AG der IL Hamburg beschreibt die Bedingungen, Chancen und Risiken einer Volksentscheidskampagne gegen Wohnungskonzerne.

»Damit wir uns Hamburg wieder leisten können« – unter diesem Motto sammelt die Initiative »Hamburg Enteignet« seit Mitte September Unterschriften für einen Volksentscheid. Das Ziel: Wie in Berlin sollen die Menschen in Hamburg darüber abstimmen, ob die Wohnungen großer Immobilienunternehmen enteignet und in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt werden. Alle profitorientierten, privaten Wohnungsunternehmen mit mehr als 500 Wohnungen sollen so vergesellschaftet werden. Hamburg Enteignet will damit mindestens 10% der Mietwohnungen dauerhaft dem Markt entziehen. Weil die Mieten sinken, wenn nicht länger die Dividenden der Aktionär*innen davon bezahlt werden müssen, hätte das positive Auswirkungen auf den Mietenspiegel und damit für alle Mieter*innen in Hamburg. Wie mittlerweile auch der Hamburger Verfassungsschutz herausgefunden hat, sind wir als IL aktiver Teil der Initiative. Warum wir Enteignung auch in Hamburg so super finden, erklären wir in diesem Text.

Vorbild Berlin

Der Volksentscheid von Deutsche Wohnen und Co enteignen hat viele Menschen euphorisiert. DWE hat gezeigt, dass und wie es möglich ist, für linke, antikapitalistische Forderungen Mehrheiten zu gewinnen. Soziale Unzufriedenheit und Abstiegsängste müssen nicht der extremen Rechten in die Hände spielen, sondern können von links politisiert werden. Die Brutalität des kapitalistischen Wohnungsmarktes erleben Menschen in allen Großstädten. Aber eine stadtweite Bewegung, die große Teile des Wohnungsbestandes dem Markt entziehen und vergesellschaften will, gab es bisher noch nicht. Mit der Beteiligung an DWE und den Kämpfen, die DWE vorausgingen, haben unsere Berliner Genoss*innen IL-Politik auf ein neues Level gehoben: An konkreten sozialen Problemen anknüpfen, sich mit vielen Betroffenen organisieren und gemeinsam für antikapitalistische Ziele kämpfen.

In Hamburg schauten wir neidisch nach Berlin. Spätestens mit dem großartigen Erfolg beim Volksentscheid stellten sich uns konkrete Fragen: Geht das nur in Berlin, oder kann es noch viel mehr solche Kampagnen geben, die die Eigentumsfrage stellen? Wie können wir aus Hamburg DWE unterstützen, damit der Berliner Volksentscheid auch umgesetzt wird? Und die Frage, die die beiden ersten Fragen miteinander verbindet: Ist eine Kampagne für einen Volksentscheid zur Enteignung großer, profitorientierter Wohnungsunternehmen auch in Hamburg möglich?

Ausgangsbedingungen

Um das zu beantworten, ist ein Blick auf die Ausgangsbedingungen wichtig, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Berlin aufweisen. Gemeinsam ist beiden Städte zunächst, dass sie Stadtstaaten sind. Das erleichtert Volksentscheide zum Thema Miete erheblich. Der Hamburger Wohnungsmarkt ist wie in Berlin extrem angespannt. Wohnungen sind – insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen – schwer zu finden. In beiden Städten gibt es eine beschleunigte Gentrifizierung nicht mehr nur einzelner Stadtviertel, sondern des gesamten städtischen Raumes.

Hamburg wird von SPD-Politiker*innen bundesweit als Vorbild der Wohnungspolitik hochgehalten, weil die Stadt im Bündnis mit der Immobilienindustrie vor Jahren ein großes Neubauprogramm in Gang gesetzt hat. Nur geht die Rechnung für Hamburgs Mieter*innen nicht auf, weil die meisten neuen Wohnungen unbezahlbar sind. Die Zahl der Sozialwohnungen jedoch sinkt trotz Neubaus, weil jedes Jahr mehr Wohnungen aus der Preisbindung...

Debatte: Heißer Herbst?!

Debattenblog - Do, 11/17/2022 - 11:14
Krise ohne Ende

Die Nachrichten überschlagen sich. Ständig werden neue Inflations- und Preisrekorde verkündet. Konkrete Zahlen zu nennen ist an dieser Stelle nicht angebracht, da diese morgen schon wieder überholt sein könnten. Doch eines ist mit Gewissheit zu sagen: Diese Krise verteuert die Lebenshaltungskosten für die meisten Menschen existenziell. Armut, Hunger, Energiesperren oder Zwangsräumungen drohen Millionen von Menschen in Deutschland. Gleichzeitig füllen sich die Taschen Weniger unaufhörlich weiter. Egal wie hart die Krise die meisten treffen mag, die Reichen profitieren dennoch und bauen ihren absurden Reichtum stetig aus.

Zu beobachten ist dies jedoch nicht nur hierzulande. In ganz Europa und weiten Teilen der Erde spitzt sich der Klassenantagonismus spürbar zu. Während die einen durch die Energiekrise immense Extraprofite einheimsen, gefährden die Preisexplosionen das Überleben der anderen. Die Ursachen und der Beginn der Krisenerscheinungen liegen in der Vergangenheit. Aber sie bekommen heute eine besondere Dramatik. Die katastrophalen Folgen lassen sich nicht mehr übersehen.

Und die gesellschaftliche Linke…?

Die hat die Notwendigkeit zum Handeln ebenfalls begriffen. Selten wurde an so vielen Ecken gleichzeitig zu ein und demselben Thema diskutiert, gearbeitet und vernetzt. Bündnisse entstehen in vielen Städten. »Genug ist Genug« versucht ein Dach über diese zu zimmern. Verschiedenste Ansätze werden gegeneinander diskutiert: Basisarbeit vs. Diskursintervention vs. Direkte Aktion vs. Großdemonstration vs. Boykott. Dennoch ist die Schwäche der (radikalen) Linken nicht zu übersehen: Strategische Ratlosigkeit, Uneinigkeit, fehlende analytische Schärfe und eine allgemeine Unbestimmtheit im Handeln sind vielerorts prägend.

Noch immer stehen klare Antworten auf zentrale Fragen aus. Wie schlimm wird es wirklich, welche Dynamik wird die Krise nehmen und welche Szenarien sind denkbar? Welche Auswirkungen hat das gegenwärtige gesellschaftliche Kräfteverhältnis? Wirkt die soziale Befriedung der scheinbaren staatlichen Hilfsmittel, oder durchbricht die Wut der Menschen diese Illusion? Welche Rolle kann / soll die radikale Linke in dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung nehmen und welches Ziel soll unsere Praxis haben? Beteiligen wir uns an der Austüftelung realpolitischer Forderung und wollen Schlimmeres verhindern? Oder wollen wir der Angst und der Wut zum Ausdruck verhelfen und revolutionäres Bewusstsein aufbauen? Wollen wir die Gelegenheiten nutzen, um wieder Land zu gewinnen bei den prekarisierten und marginalisierten Schichten? Wie schaffen wir es, den autoritären und menschenverachtenden Angriffen von Rechts zu begegnen? Und welche Rolle spielt bei all dem politische Organisation? Gelingt es uns, neuen Genoss*innen und Mitstreiter*innen und dem Protest Formen der Organisation zu geben? Wie setzen wir uns mit unseren Genoss*innen transnational in Verbindung und schaffen Momente des gemeinsamen Lernens und Kämpfens?

Aufruf zur Debatte!

Diesen und vielen weiteren Fragen wollen wir einen Raum geben und rufen Euch als Einzelpersonen und Gruppen – aus der IL und aus dem Kreise unserer Freund*innen und Kritiker*innen – auf, Euch an der Debatte zu beteiligen und uns Eure Artikel-Vorschläge zu schicken. Ihr erreicht uns unter blog@interventionistische-linke.org. Wir freuen uns auf eine spannende Diskussion!

Sofia, ein Reisebericht

Debattenblog - So, 11/06/2022 - 13:29

Der Reisebericht von Renate, die wie Hans am Treffen des Transnational Social Strike teilgenommen hat, beleuchtet eine andere Facette der bulgarischen Wirklichkeit. Sie sieht die Hauptstadt Bulgariens mit den Augen einer Person, deren Politik- und Geschichtsunterricht immer noch einen blinden Fleck aufweist.

Vorgeschichte

Aus der Begleitung der EZLN-Delegation im Oktober 2021 entsteht eine Gruppe von Genoss*innen in Hamburg, die sich alle 4-6 Wochen zum unverbindlichen Austausch treffen. Wir wollen einen anderen, neuen Internationalismus. Wie der aussehen kann, ist uns unklar. Nur eines wissen wir: Die »alte« Solidaritätsarbeit, deren Verdienste nicht zu hoch geschätzt werden können, reicht uns nicht, ist nicht mehr zeitgemäß. Im Frühjahr 2022 entsteht - auch - durch den Ukrainekrieg und die unübersichtlichen Diskussionsstränge innerhalb der iL die Idee, sich mit Osteuropa zu befassen. Zeitgleich landet bei uns eine Einladung zum Treffen von Transnational Social Strike (TSS) in Sofia vom 8.-11. September 2022. Da wir in den vergangenen Monaten immer deutlicher unser Unwissen, unsere blinden Flecken bezüglich Osteuropa, die Entwicklung der postsowjetischen und mit der Sowjetunion verbundenener Staaten und deren Geschichte bemerken, entschließen wir uns, aus Hamburg eine kleine »Delegation« zum Treffen zu schicken.

In dieser Reisereportage beschreibe ich persönliche Eindrücke: was mir auffällt beim Gehen durch die Stadt, die Kuriositäten (oder was ich als solche empfinde). Ich verstehe den Reisebericht als Ergänzung für politische Berichte aus den Workshops und Arbeitsgruppen, von Gesprächen und Vernetzungen mit Genoss*innen. Ich hoffe, dass sich daraus Verbindungen entwickeln, die solidarische, internationalistische Früchte tragen und im Idealfall eine Verbindung der Kämpfe hier und bei ihnen herstellt.

Die Reise

Aus der Hamburger Ortsgruppe sind wir zu siebt, Genoss*innen aus Klassenpolitik, KoGre, AntiraAG, InternationalismusAG. Wir kommen nicht gleichzeitig in Sofia an und haben ein Appartement in der Innenstadt angemietet. Bis auf eine Person sind wir alle zum ersten Mal in Bulgarien. Am Flughafen angekommen fällt mir auf, dass es hinter der Passkontrolle einen After Flight Duty Free Shop gibt, der bei unserer Ankunft um 22:45 h noch geöffnet ist. Mein erster Gedanke ist, dass Bulgarien ausgezeichnet gelernt hat, wie Kapitalismus funktioniert..

Am Gepäckband informieren wir uns über Taxipreise. Das Internet sagt uns, dass eine Taxifahrt vom Flughafen in die Innenstadt 20 Lewa kosten soll. Wir fragen den Taxifahrer, der bei uns hält, wie teuer eine Fahrt sei. Als er »25 Euro oder 50 Lewa« sagt, sind wir verunsichert. Wir vermuten schon einen Taxifahrer, der die Umverteilung von oben nach unten individuell regeln will und fragen ihn. Auf unsere Frage reagiert er sehr gelassen und sagt, dass das Benzin wegen des Krieges so teuer geworden sei. Verstanden. Nach circa 20 Minuten Fahrt kommen wir im Appartement an. Dort erwarten uns die Genoss*innen mit Bier, Brot, Käse und Süßem. Das Appartement ist geräumig für uns sieben, die Räume sind verteilt. Wir sitzen noch zusammen und politisieren, was mit einem Bier in der Hand immer noch etwas besser geht als während des Plenums - und es ist lustiger.

Donnerstag, der 8. September 22

Am nächsten Morgen erstmal einkaufen. Auf dem Weg zum dm begegnet uns eine Niederlassung der...

Für eine transnationale europäische Linke!

Debattenblog - Fr, 11/04/2022 - 16:16

Vom 9. bis 11. September 2022 kamen kapitalismuskritische Initiativen aus ganz Europa zum Transnational-Social-Strike-Treffen in Sofia zusammen. Der Autor Hans berichtet von den Kämpfen der bulgarischen Linken und den Diskussionen über ein transnationales Netzwerk.

Vom 9. bis 11. September 2022 fand wieder ein Transnational-Social-Strike-Treffen (TSS-Treffen) in Sofia statt. Die Zusammenkünfte gibt es seit 2015, wobei das erste Treffen am Rande von Blockupy abgehalten wurden. Auf den Treffen kommen kapitalismuskritische Initiativen aus ganz Europa zusammen von Basisgewerkschaften wie Solidaires aus Frankreich über linksradikale Bündnisse wie die Interventionistische Linke oder Plan C bishin zu Gruppen wie Angry Workers of the World aus Großbritannien. Es nehmen darüber hinaus auch viele Einzelpersonen teil. Das Treffen in Sofia war das erste seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Europa. Die feministische Gruppe LevFem aus Bulgarien organisierte das Treffen und leistete auch währenddessen enorm viel Reproduktionsarbeit inklusive einer sehr spannende Stadtführung durch das ehemals realsozialistische Sofia. Hierfür möchte ich mich an der Stelle bedanken!

Die Genoss*innen auf dem Treffen teilen die grundlegende Ansicht, dass in der heutigen polit-ökonomischen Situation die Linke ihre Kampfarena über die Grenzen des Nationalstaats hinaus erweitern muss, wenn sie die Interessen der Unterdrückten erfolgreich durchsetzen will. Bis dahin ist es allerdings noch ein langer Weg. Wichtiges Thema des Treffens war zum einen der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Zuge einer neuen globalen Blockbildung zwischen den imperialistischen Großmächten. Bedeutend für die Teilnehmenden waren vor allem die politökonomischen Folgen für die Bevölkerungen der europäischen Staaten wie Inflation und die Kriegskosten, für die nun die europäische Arbeiter*innenklasse aufkommen soll. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Lage von Frauen und LGBTQ+ sowie Migrant*innen im Krieg. Zum anderen fanden Diskussionen zu der sich immer weiter zuspitzenden Klimakrise statt, wobei auch die negative Auswirkung des Krieges für das Weltklima hervorgehoben wurde. Für uns war insbesondere der Austausch mit Genoss*innen aus osteuropäischen Ländern zu diesen Fragen wichtig, die etwa zum russischen und EU-Imperialismus ein anderes Verhältnis haben als wir, also Bewohner* des europäischen Hegemon Deutschland. Im Folgenden werde ich zunächst auf die Situation der Linken in Bulgarien eingehen, da ich glaube, dass die dortige Situation in Deutschland weitgehend unbekannt ist, und zugleich Bezüge zu den Debatten auf dem TSS-Meeting herstellen. In einem zweiten Teil werde ich mich einer Kritik des Treffens widmen.

Zu den Kampfbedingungen der bulgarischen Linken

Bei der Darstellung der politischen Situation in Bulgarien beziehe ich mich nur auf die Erfahrungen, die Genoss*innen der feministischen Gruppe LevFem und der arbeitskampforientierten Gruppe Konflikt mit uns geteilt haben. Bulgarien war seit dem Ende des WK II Teil des imperialen Blocks der Sowjetunion gewesen. Die Vertreter*innen des realsozialistischen Regimes leiteten im Zuge der Massenproteste im Ostblock 1990 Wahlen ein, wobei die Proteste in Bulgarien kleiner waren als in anderen Staaten. Wie in den meisten anderen Ostblock-Staaten ging die postsozialistische Transformation Bulgariens mit einer enormen Deindustrialisierung und dem Verlust von Arbeitsplätzen einher. Die Reformen, die im Zuge Bulgariens EU-Beitritts 2007 stattfanden, sorgten für eine weite Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen. Mehrere Genoss*innen aus ehemaligen Ostblock- und Sowjet-Staaten beschrieben die Erfahrungen der Einführung des Kapitalismus...

»Die Mauer zum Postfaschismus ist durchbrochen«

Debattenblog - Di, 10/18/2022 - 13:31

Was der Wahlsieg Giorgia Melonis und ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia für die italienische Linke bedeutet und warum sich soziale, ökologische und feministische Kräfte gegen die neue rechte Hegemonie verbünden müssen, argumentiert Giansandro Merli in diesem Text.

Die Wahl

Die erste weibliche Ministerpräsidentin in der Geschichte Italiens wird Giorgia Meloni heißen. Noch steht die offizielle Amtseinführung aus, aber die Wahlergebnisse sprechen für sich: Die Rechtskoalition hat eine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und im Senat. Die Fratelli d'Italia (FdI) erhielten 26 Prozent und setzten sich von den beiden anderen Bündnispartnern deutlich ab: der Lega von Matteo Salvini (8,9 Prozent) und der Forza Italia des unsterblichen Silvio Berlusconi (8,3 Prozent). Die beiden Spitzenpolitiker müssen einen Schritt hinter Meloni treten, aber ihre Stimmen werden für die Aufrechterhaltung der Regierung in beiden Kammern des Parlaments notwendig sein.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen im Jahr 2018 hat die FdI ihren Stimmenanteil versechsfacht, dies vor allem auf Kosten der anderen rechtsgerichteten politischen Kräfte. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass sie in allen drei Regierungen der letzten Legislaturperiode in der Opposition war: Erste Regierung Conte (Movimento 5 Stelle - Lega); Zweite Regierung Conte (Movimento 5 Stelle - Partito democratico); Regierung Draghi (technokratische Regierung bestehend aus allen Parteien außer der FdI).

Zwei weitere Faktoren begünstigten den Sieg der Rechten: ein sehr kompliziertes Wahlgesetz, das ein Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht kombiniert und Koalitionsbildungen belohnt. Und die Entscheidung des Sekretärs der Demokratischen Partei (PD), Enrico Letta, die Koalition mit dem Movimento 5 Stelle (M5S) zu sprengen, nachdem dieser der Regierung Draghi das Vertrauen entzogen hatte. Lettas Wahlkampf, der 19 % der Stimmen brachte, scheiterte an allen Fronten. Er wollte in der Auseinandersetzung zwischen ihm und Meloni polarisieren und dann im Angesicht einer faschistischen Gefahr die voti utili (1) einsammeln. Beides ist ihm nicht gelungen.

Vor allem in den letzten Wochen und insbesondere im Süden hat der M5S, der noch vor wenigen Wochen für tot gehalten wurde, schnell wieder an Zustimmung gewonnen. Im Süden wurde er stärkste Partei, mit sehr hohen Prozentsätzen in den Armenvierteln der Städte. Landesweit lag der M5S mit 15,6 % hinter der PD. Im Vergleich zu den Wahlen 2018 ist er die politische Kraft, die in absoluten Zahlen die meisten Stimmen verloren hat, nämlich rund 6 Millionen. Und dennoch kann er mit dem Ergebnis zufrieden sein. Während der Legislaturperiode hat der M5S unter der Führung von Giuseppe Conte, einem bis dato unbekannten Rechtsanwalt aus der Provinz Foggia, der vor vier Jahren aus dem Nichts ins Rampenlicht der nationalen Politik getreten ist, sein Gesicht gewechselt. Aus einer Mischung von populistischen Forderungen, die weder rechts noch links waren und dem M5S erst zu einer Regierung mit der Lega und unmittelbar danach mit der Demokratischen Partei verhalfen, hat er sich neu aufgestellt. In sozialen und ökologischen Fragen gilt er als linker als Lettas Partei. Nicht weil der M5S besonders radikale Positionen vertritt, sondern weil die PD sich weiter in die Mitte bewegt hat. Wie die geografische Verteilung der Stimmen und die Verteilung nach Einkommensklassen zeigen, wurde der M5S bei...

Vergesellschaftung und ökologische Klassenpolitik

Debattenblog - Di, 10/11/2022 - 14:14

Über 1400 Menschen diskutieren auf der Vergesellschaftungskonferenz in Berlin welche Antworten Vergesellschaftung auf die brennenden Fragen von erschwinglichen Wohnungen für alle, der Mobilitäts- und Energiewende oder der Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern geben kann. Ein Gespräch mit Laura Meschede von Klimaschutz und Klassenkampf und Justus Henze aus dem Organisationsteam der Konferenz.

arranca!: Die Bundesregierung verstaatlicht Uniper, die IG BAU fordert eine Teilverstaatlichung von großen Wohnungskonzernen und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas möchte eine Verstaatlichung von Wasser-, Strom- und Gasversorgung neu diskutieren. Was unterscheidet diese Debatte um öffentliches Eigentum von der Vergesellschaftung, auf die Deutsche Wohnen und Co. enteignen oder ihr mit der Vergesellschaftungskonferenz hinauswollen?

Justus: Die aktuellen Debatten zeigen, dass die Eigentumsfrage auch dank Deutsche Wohnen und Co. enteignen zurück ist. Selbstverständlich gehört die Grundversorgung im Sinne von allgemeinen Basisleistungen wie Wohnen, Bildung oder eben Energie vollständig in öffentliches Eigentum. Die momentanen Verstaatlichungen folgen jedoch dem klassischen Krisenmodell, der Sozialisierung von Verlusten. Solidarische Vergesellschaftung geht weit über die Änderung des Eigentumstitels hinaus: Es geht darum, die Wirtschaft zu demokratisieren und langfristig an gesellschaftlichen Interessen auszurichten. Im Energiesektor würde das bedeuten, die großen Konzerne zu enteignen und auf verschiedenen Ebenen demokratische Planungsprozesse für den ökologischen Umbau zu beginnen. Die Enteignung ist dafür nur der erste Schritt. Danach geht es darum, demokratische und politisierte Organisationsformen zu schaffen. Deutsche Wohnen & Co. enteignen hat mit dem Konzept einer Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) einen guten Vorschlag für den Wohnsektor gemacht. Dabei geht es eben nicht darum, die Wohnungen an den Berliner Senat zu übergeben, sodass dieser sie bei nächster Gelegenheit wieder privatisieren kann. Das wollen wir für andere Sektoren durchdenken und demokratische Planung jenseits von Markt und Staat politisch diskutieren.

arranca!: Als Gruppe Klimaschutz und Klassenkampf seid ihr bei der Vergesellschaftungskonferenz dabei. Wieso und an welchen Stellen ist die Eigentumsfrage für eure politische Arbeit relevant? Was sind eure Perspektiven auf die aktuellen Vergesellschaftungskampagnen?

Laura: Klimaschutz und Klassenkampf ist als Kampagne in einem konkreten Kampf um das Werk eines Münchner Automobil-Zulieferers entstanden. Dieses Werk – ein BOSCH-Werk – sollte geschlossen werden, angeblich für den ‹Klimaschutz›. In dem Werk werden Einspritzdüsen für Diesel-Motoren hergestellt. Tatsächlich ging es nicht um Klimaschutz, sondern darum, das Werk nach Osteuropa zu verlagern, um geringere Löhne zahlen zu können. Wir als Klimaaktivist*innen haben uns mit den Beschäftigten des Werkes zusammengeschlossen und gefordert, dass das Werk erhalten bleibt und dass die Produktion auf klimafreundliche Produkte umgestellt wird. Man hätte in dem Werk beispielsweise Wärmepumpen bauen können. Obwohl mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in einem offenen Brief erklärt haben, dass sie für die Umstellung der Produktion auf klimafreundliche Produkte einstehen, hat sich das Management von BOSCH geweigert, diese Umstellung umzusetzen. Eigentlich keine Überraschung: Wie jeder Konzern produziert natürlich auch BOSCH nur das, was ihnen die meisten Profite bringt. Unsere Kampagne hat gezeigt, dass es nicht die Beschäftigten sind, die einer klimafreundlichen und bedürfnisorientierten Produktion entgegenstehen. Es sind die Eigentumsverhältnisse.

arranca!: Der Erfolg von Deutsche Wohnen & Co enteignen zeigt ja, dass Enteignung durchaus populär sein kann. Ist es an der Zeit, die Vergesellschaftung von Autokonzernen...

Der Kampf für die Enteignung und Vergesellschaftung von Energiekonzernen

Debattenblog - Fr, 10/07/2022 - 22:29

Die aktuelle Energiekrise zeigt deutlich, warum man die Energieversorgung nicht dem Markt überlassen sollte – und warum große Energiekonzerne dringend enteignet und vergesellschaftet werden müssen, wie es die Initiative »RWE & Co. enteignen« fordert. Dass diese Debatte nicht neu ist und welche grundlegenden strategischen Fragen damit verbunden sind, zeigt der folgende Text der initiative k aus Düsseldorf, der 2012 in unserer Enteignungsbroschüre erschienen ist.

Der Impuls für die Beschäftigung mit diesem Thema kam in Düsseldorf nicht aus der Ökologie-Bewegung, sondern aus dem Bereich der Sozialen Kämpfe: Wir, die initiative k, beschäftigten uns seit unserer Gründung im Jahre 1994 sowohl theoretisch als auch praktisch mit dem Themenbereich Stadtentwicklung, Wohnungsnot, Armut. Dabei tauchte auch immer häufiger das Problem der armutsbedingten Stromabschaltungen auf.

Neben kleineren lokalen Interventionen wandten wir uns im Frühjahr 2008 mit dem Papier »Warum die Kampagne zur Enteignung und Vergesellschaftung von Energiekonzernen für die (radikale) Linke Sinn macht« an die Offene Arbeitskonferenz der »Interventionistischen Linken« (iL). In dem Papier formulierten wir:

»Für uns ist die Eigentumsfrage die Grundfrage in Hinblick auf die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie. Ohne Überwindung des Privateigentums an (zumindest den zentralen) Produktions- und Distributionsmitteln kann u.E. keine nachkapitalistische, emanzipatorische Gesellschaft entstehen. Dabei wissen wir, dass die Enteignung notwendig, aber nicht hinreichend ist. Wir benutzen daher das Wortpaar Enteignung und Vergesellschaftung in unserer Arbeit, um den demokratischen und emanzipatorischen Charakter unseres Ziels zu beschreiben. Vergesellschaftung meint u.a. die Herstellung von dauerhafter demokratischer Kontrolle, partizipativen Gestaltungsmöglichkeiten, ökologisch und sozialer Zielorientierung und teilweiser Dezentralisierung.«

Zur Begründung, warum wir die Beschäftigung ausgerechnet mit Energiekonzernen für sinnvoll halten, führten wir aus:

»Weil anhand der Strom- und Mineralölkonzerne exemplarisch die Schädlichkeit des Kapitalismus für die Mehrheit der Bevölkerung demonstriert werden kann – und weil es jede Menge Anknüpfungspunkte für (radikal) linke Politik gibt.

Wir denken, dass die Energiekonzerne berechtigterweise verhasst sind. Ihre Oligopole sorgen für Extraprofite, herausgepresst aus den Millionen von Strom, Öl, Gas und Benzin abhängigen Menschen in diesem Land. Jede Nachzahlung , jede Preiserhöhung sorgt für Ärger – dem stehen satte Profite gegenüber.

Die Energiekonzerne werden von vielen Menschen aus sozialer, ökologischer und demokratischer Sicht als ein Übel ersten Ranges begriffen, was uns die Argumentation für ihre Enteignung und Vergesellschaftung erleichtert. Darüber hinaus denken wir, dass die Lösung der ökologischen Frage (Klimakatastrophe, AKWs etc.) für die Menschheit überlebenswichtige Bedeutung hat – und dass das Zeitfenster für die Lösung stetig kleiner wird.«

Als Elemente einer langfristigen, kontinuierlichen Arbeit zu diesem Thema wurden u.a. genannt:

»Kampf gegen die Privatisierung von städtischen Energieunternehmen bzw. für die Rekommunalisierung. Kampf für Sozialtarife in der Energiegrundversorgung. Kampf gegen Kohle- und Kernkraftwerke. Kampf für die Durchsetzung alternativer Energien in der Region. Kampf gegen die Verwendung von Nahrungsmitteln als Biosprit.«

Das Papier hält fest: »Unser Erfolg hängt davon ab, ob auch andere Gruppen bereit sind, die Eigentumsfrage aufzugreifen. Wir haben daher hohes Interesse an einer Zusammenarbeit mit anderen Gruppen.«

Wenn jetzt, vier Jahre später, eine Zwischenbilanz zu ziehen ist, so enthält diese Fortschritte und Stagnation, aber erfreulicherweise keine Rückschritte.

Ein wichtiger Fortschritt ist in der Ausdehnung des Diskurses in...

Vergesellschaftung als roter Faden interventionistischer Politik

Debattenblog - Mo, 10/03/2022 - 23:16

Spätestens seit dem erfolgreichen Volksbegehren von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« ist »Vergesellschaftung« in der deutschen Linken in aller Munde. Zur anstehenden Vergesellschaftungskonferenz in Berlin haben sich weit über eintausend Teilnehmende angemeldet. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einzelne Beiträge unserer 2012 erschienenen IL-Vergesellschaftungsbroschüre hier auf dem Blog – als Rückblick auf unsere eigene Geschichte und als Anstoß für zukünftige Debatten. Wir beginnend mit Vorwort und Einleitung.

Vorwort

Diese Broschüre dokumentiert den Stand einer Debatte in der »interventionistischen Linken« (iL) aus dem Frühjahr 2012. Sie beschäftigt sich anhand konkreter Beispiele mit dem Konzept der Vergesellschaftung. Die Texte der Gruppen entspringen ihrer politischen Arbeit in den Tätigkeitsfeldern Energie, Gesundheit, Recht auf Stadt und Care-Arbeit. Sie machen deutlich, wie vielfältig die sozialen Auseinandersetzungen sind, die derzeit geführt werden (müssen). Zugleich zeigen sie auch, dass die vermeintlich so unterschiedlichen Kampfe über eine Vielzahl an Gemeinsamkeiten verfügen.

Ausgangspunkt aller Beitrage sind die vielfältigen Probleme, die von der kapitalistischen Profitlogik andauernd hervorgebracht und durch die derzeitige Krise weiter verschärft werden. Das macht besonders deutlich, dass es grundlegender Veränderungen bedarf. Insbesondere dort, wo die Folgen neoliberaler Krisen»lösungen« besonders drastisch sind, sind Menschen gezwungen, zentrale Lebensbereiche selbst zu gestalten und zu organisieren.

Dabei zeigt sich, dass die notwendige Überwindung der Profitlogik verknüpft ist mit der Frage, wie die jeweiligen Bereiche – letztendlich aber auch die gesamte Gesellschaft – anders, solidarisch und ohne Kapitalismus organisiert werden können. Diese Broschüre soll der Anfang einer breiten Debatte darüber sein, wie eine solidarische Gesellschaft konkret aussehen kann, und wie wir sie in die Realität umsetzen oder ihr zumindest Schritt für Schritt näher kommen können.

Wir wenden uns mit dieser Broschüre insbesondere an die assambleas auf den Plätzen, die Foren von Gewerkschafter*innen, an Vollversammlungen und Zusammenschlüsse von Betroffenen. Wir hoffen, dass wir so einen Beitrag dazu leisten können, dass sie sich über den Weg zu einer neuen, freien, solidarischen Gesellschaft austauschen und neue Formen der Organisation als einen Beitrag zur Lösung ihrer Probleme auffassen. Entscheidend ist, dass diese neuen Formen ausprobiert und erprobt werden, denn eine freie Gesellschaft kann nicht am Reißbrett entworfen werden. In diesem Sinne wollen wir hier Denkanstöße, Vorschläge und Ideen liefern – vor allem aber dazu aufrufen eine mutige, offensive und neue Praxis zu entwickeln.

Einleitung Warum diese Broschüre

Spätestens die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat vielen Menschen vor Augen geführt, dass eine kapitalistisch organisierte Welt nicht das Gelbe vom Ei ist. Doch trotz aller Legitimitätsprobleme sitzt der Kapitalismus scheinbar unumstößlich im Sattel. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass es seinen Verfechter*innen immer wieder gelingt, den Kapitalismus als absolut alternativlos darzustellen. Und das liegt wiederum auch daran, dass es progressiven gesellschaftlichen Kräften nicht gelingt, dieser Alternativlosigkeit eine über den Kapitalismus hinausweisende und zugleich greifbare Perspektive entgegenzusetzen.

In Ermangelung einer solchen Perspektive sind unsere Kämpfe selten nach vorne gerichtet, sondern häufig Abwehrkämpfe oder beschränken sich auf Minimalforderungen, die wie Rettungsmaßnahmen oder Schönheits-OPs wirken und dadurch den Kapitalismus sogar stabilisieren können. Eine Alternative zum Kapitalismus wird dadurch nicht vorstellbar.

Innerhalb der Gesellschaft besteht eine Vielzahl von Konflikten, die vereinzelt ausgetragen...

Winter is coming – RWE & Co enteignen!

Debattenblog - Sa, 08/27/2022 - 09:56

Die Krisen dieser Zeit zeigen: Klima und soziale Frage müssen nicht »zusammen gedacht werden«, sondern sind unweigerlich miteinander verbunden; same shit einer menschenfeindlichen und kapitalistischen Energieproduktion. Im Rahmen der überregionalen Großdemo »Enteignen statt Krise« trägt die Klimagerechtigkeitsbewegung die Forderungen nach einer vergesellschafteten Zukunft auf die Straße.

Die Realität der Energiearmut…

Energie haben oder nicht haben, nicht ohne Grund gibt es für letzteres einen Begriff: Energiearmut. In Großbritannien gilt als »energiearm«, wer mehr als 10 Prozent des Nettoeinkommens für Strom, Gas und Heizung zahlt. In der BRD gibt es keine einheitliche Definition. Hier zeigt sich: Obwohl 2019 bereits knapp 300.000 Haushalten der Strom abgeklemmt wurde, fand nie eine richtige öffentliche Debatte darüber statt, was Steckdose und Heizung mit Armut zu tun haben. Diese Debatte ist spätestens in diesem Herbst überfällig.

Was uns diesen Winter erwartet, ist nichts anderes als der größte Sozialabbau seit Hartz IV. Während bisher schon ein Viertel der Haushalte in der BRD nach der oben genannten Definition energiearm waren, werden in diesem Winter knapp 30 Millionen ihre Energierechnung gar nicht mehr zahlen können, prognostiziert der Mieterbund. Eine bisher unter den Teppich gekehrte Problematik wird nun zum Massenphänomen.

…und die Absurdität der Gasumlage

Was als »Rettungsmaßnahme« daherkommt, entpuppt sich immer mehr als Umverteilung von unten nach oben. Während RWE seine Gewinnprognose neulich erst um über eine Milliarden nach oben korrigiert hat, müssen Endverbraucher*innen den Konzernen zusätzliche Profite direkt in die Tasche zahlen. Statt der Einführung der Gasumlage sollten jetzt sofort Übergewinne besteuert, Energiepreise gedeckelt und Sicherheit vor Zwangsräumung und Stromklemmen garantiert werden. Und das wäre nicht mal ein Stück vom Kuchen, sondern das absolute Minimum. Und bekanntlich wollen wir ja die ganze Bäckerei …

Energie wird und wurde immer schon in höchstem Maße nach politischem Interesse verwertbar gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste. Jetzt strauchelt genau diese fossile, versteinerte Energieversorgung in Europa massivst und die allerersten Manifestationen einer sich anbahnenden Versorgungsknappheit werden per Gasumlage an Verbraucher*innen weitergegeben, ohne mit der Wimper zu zucken.

Wichtige Weichenstellungen

Es wird ein falscher Widerspruch zwischen Klima und sozialer Frage konstruiert, dabei wird keine Kohle- und Atomkraft der Welt sicherstellen, dass alle im Winter heizen können. Und trotzdem: Wenn Energie für die breite Gesellschaft ein Luxusgut wird, können wir unsere Forderung nach ökologischer und erneuerbarer Energie direkt stecken lassen.

Mittlerweile bekommen wir Sozialabbau und Rechtsruck in Grün und eine »neue RWE«, vegane IKEA-Fleischbällchen und der obligatorische Nachhaltigkeits-Reiter auf jeder Konzernwebsite. Dies sind nur einige Beispiele der endlosen Greenwashing-Kampagnen. Wir müssen uns wirklich fragen: Ist die Überwindung des Kapitalismus tatsächlich noch Ziel und Utopie? Oder haben wir uns gehen lassen, sind ein aktualisierender Arm des Hegemonieprojekts »grünes Wachstum« geworden?

Uns geht es darum, greifbar zu machen: Die Frage um Stromversorgung ist grundsätzlich nicht mit einer Marktlogik vereinbar, noch weiter, sie muss ihr entzogen werden!

Die aktuellen Krisen spitzen sich zu. Wir müssen Antworten finden.

Und auch von glühenden Hitzesommern und eiskalten Wintern wissen wir schon seit Jahren. Dass diese uns nicht erst ab 2050 erwarten, ist die eine Sache. Dass eine angemessene Vorbereitung oder gar eine...

»Mit einem Fuß in der Institution und mit dem anderen auf der Straße«

Debattenblog - Do, 08/25/2022 - 11:16

Am 4. September wird in Chile über die neue Verfassung abgestimmt. Mit Javiera Manzi, Soziologin und feministische Aktivistin, sprechen wir über die Potenziale und Grenzen des Verfassungsprozesses und über die feministische Streikbewegung.

Die gegenwärtige Verfassung Chiles stammt aus der Zeit der Diktatur unter General Augusto Pinochet. Darin verankert ist ein neoliberales Finanz- und Politikmodell, das den Sozialstaat auf ein Minimum reduziert und soziale Infrastruktur weitestgehend dem privaten Sektor überlässt. Im Herbst 2019 entzündete sich nach der Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr eine soziale Revolte, die über mehrere Monate andauerte und landesweite Massenproteste nach sich zog. Der politische Kitt der Revolte lag in der Forderung, den Neoliberalismus zu beenden. »Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben«, war die Parole der Revolte. Der Prozess um eine neue Verfassung ist somit die Errungenschaft sozialer Bewegungen.

2021 wurde eine Verfassungsgebende Versammlung demokratisch gewählt. Dieser Versammlung gehörten Vertreter*innen der Umwelt- und feministischen Bewegungen an, von indigenen Gemeinschaften, sowie Akteur*innen aus der vorausgegangen Protestbewegung. Den Vertreter*innen ist es unter anderem gelungen ein Recht auf Sorge, sowie Rechte für Klima und Umwelt mit Verfassungsrang festzuschreiben. Unter Wahlpflicht entscheiden nun am 4. September die Menschen in Chile, ob die Verfassung angenommen oder abgelehnt wird. Unsere Gesprächspartnerin Javiera Manzi ist in feministischen Kämpfen und der Kampagne für ein „Ja“ zur neuen Verfassung im Abschlussplebiszit aktiv.

Debattenblog: In Chile bereitet ihr gerade das große Referendum am 4. September für den neuen Verfassungsentwurf vor. Wie kam es dazu? Wie hast du die letzten Monate erlebt?

Javiera: Aktuell sind wir Teil des Verfassungsprozesses, der mit einer sozialen Revolte und dem Aufstand am 18.Oktober 2019 begonnen hat. Deswegen ist es mir wichtig ,dass wir uns in Erinnerung rufen,dass dieser Prozess mit massiven sozialen Mobilisierungen auf der Straße begann, und seinen Ursprung nicht im Parlament hat. Unsere Bewegung hatte keine Anführer*innen oder Repräsentant*innen, sondern war ein spontaner Ausbruch gegen den Neoliberalismus und die Prekarisierung des Lebens in Chile. Nun steht der verfassungsgebende Prozess, kurz vor seinem Ende. Am 4. September werden wir in Chile über den endgültigen Verfassungsentwurf abstimmen. All das ist jetzt schon ein großer Erfolg für die sozialen Bewegungen und die chilenische Linke. Wir haben das politische System verändert und konnten viele soziale Rechte in der Verfassung verankern, etwa in Bezug auf den Schutz der Umwelt und die Rechte der Natur, insbesondere aber auch durch feministische Forderungen und Veränderungen im Justizsystem. Wir hoffen, dass wir die Mobilisierungen am 4. September mit einer massiven Zustimmung zur Verfassung abschließen können.

Wie kam es dazu, dass ihr euch dafür entschieden habt, eine neue Verfassung zu schreiben? Und was ist die Rolle sozialer Bewegungen in einem solchen Prozess?

Ich bin Teil der Coordinadora 8M. Wir organisieren seit 2018 jeden 8. März einen feministischen Streik und kämpfen gegen die Prekarisierung des Lebens. Für uns war es sehr wichtig zu verstehen, dass der verfassungsgebende Prozess eine historische Chance ist, die autoritäre und neoliberale institutionelle Struktur in Chile zu zerschlagen. Als feministische Bewegung wollen wir nicht nur als ein Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung...

Sri Lanka und der verschleiernde Blick des Westens

Debattenblog - Do, 07/28/2022 - 12:28

Trotz aller Begeisterung für die jüngsten Massenproteste: Die gesellschaftliche Situation in Sri Lanka und vor allem die Lebensbedingungen der Minderheiten sind für den Großteil der deutschsprachigen Linken ein blinder Fleck. Sowmya Maheswaran ordnet die aktuelle Protestbewegung kritisch ein, erklärt den globalen, neokolonialen Kontext und plädiert für mehr Selbstkritik innerhalb der Linken.

Tagelang gingen vulgär-politische Bilder von Protestierenden in Sri Lanka, die in der Hauptstadt Colombo in den Pool des Präsidentenpalasts springen, viral. Obwohl sich bis dato westliche Medien, insbesondere im deutschsprachigen Raum, selten für die Belange des Landes interessierten, wurde plötzlich fast einvernehmlich »der Sturz des bösen Diktators« als »proletarischer Erfolg von unten« gefeiert. Dass Gotabaya Rajapaksa im Kontext des sri-lankischen Staatsbankrotts fluchtartig verschwinden musste, ist gut. Die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 20.Juli 2022 geben allerdings einen Vorgeschmack auf eine repressive und wenig hoffnungsverheißende Zukunft. Für die Minderheiten des Landes kommt das alles wenig überraschend. Damit offenbart sich der denkwürdige Aspekt, dass der westliche – auch teils linke – Blick sich mit seinen unterkomplexen Repräsentationen aus Sri Lanka bis heute weigert, von der gewaltvollen lokalen Geschichte der Eelam-Tamil*innen zu lernen. Eine selbstkritische Linke sollte sich die Frage stellen, inwiefern sie damit zielsicher zur Verschleierung neokolonialer und imperialer Verstrickungen des Globalen Nordens beiträgt.

Und die globale Ordnung bleibt

Kaum zwei Wochen ist es her, dass der ehemalige Präsident Rajapaksa unter massiven Protesten Sri Lanka verließ. Obwohl man sich zum Wahltag und zeitgleichen Geburtstag des antikolonialen Denkers Frantz Fanons am 20. Juli eine Episode der revolutionären Transformation nur gewünscht hätte, hilft alles romantische Herbeisehnen nichts: Die Wahl des vorher sechsfachen Premiers Ranil Wickremsinghe zum Präsidenten spricht eher Bände über die verfahrene politische und ökonomische Krise, deren Wurzeln unter anderem in globalen Machtdynamiken liegen. Wickremesinghe steht für eine gen Westen geöffnete elitäre Politik der Neoliberalität. Seit seiner Machtübernahme geht er mit krassester Militär- und Polizeigewalt gegen Protestierende vor, obwohl er kurz vorher noch Verständnis für sie äußerte und friedliche Lösungen ankündigte. Dafür kann der Internationale Währungsfonds, der sich bisher in Bezug auf Kreditvergaben sehr verhalten zeigte, sich diese seit dem Machtwechsel nun scheinbar doch vorstellen. Die globale Ordnung westlicher Hegemonie reproduziert sich damit unverhohlen weiter.

Unabhängigkeit heißt nicht auch Entkolonialisierung

Die Berücksichtigung tamilischer Perspektiven genauso wie geopolitischer Aspekte ist dringend notwendig, um die Geschehnisse auf Sri Lanka soziopolitisch und historisch einordnen zu können.

Was die allermeisten westlichen – und linken – Darstellungen der Proteste nicht benennen: Der buddhistische Nationalismus der heute gegen ökonomische Prekarität protestierenden Singhales*innen, gekoppelt mit dem britischen Kolonialerbe eines nach Mehrheitswahlrecht agierenden Staates sorgt auch fast 75 Jahre nach der Unabhängigkeit für anhaltende Gewalt gegen Tamil*innen. Von einer faktischen Entkolonialisierung kann für sie noch lange nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die mitunter über angebliche archäologische Befunde und »Entwicklungsprojekte« legitimierte Siedlungspolitik der Regierung sowie die anhaltende Militarisierung des tamilischen Nordostens zeugt auch 13 Jahre nach Kriegsende eher von einer fortschreitenden singhalesischen Kolonisierung tamilischer Gebiete. Rassistische Politiken gegenüber den tamilischen und weiteren Minderheiten haben in Sri Lankas Geschichte eine von weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft immer wieder demokratisch legitimierte Grundlage....

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